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Pubertär und halbstark

Gesellschaft | Tuvia Tenenbom: Allein unter Amerikanern

»Hier ist alles Attrappe«. Hm. Das, finde ich, geht zu weit, wenn man über die USA redet. Wenngleich es wieder zu passen scheint, sofern man an den gegenwärtigen Wahlkampf denkt, die Welt ist irreführend sortiert. Ganz in diesem Sinne ist die Beobachtung, dass »Marketing […] einer von Amerikas bedeutendsten Beiträgen zur Menschheit, wenn nicht der bedeutendste« ist. Hm. Gut zu wissen. Von WOLF SENFF

Tuvia Tenenbom - Allein unter Amerikanern cover 500

Wir genießen ein leichtes Buch, einen gelockerten Schreibstil, dialogisch, selbstkritisch, aber den Blick auch kritisch auf andere gerichtet.

So bewegt der Autor sich über die diversen Stationen bzw. Etappen vom Atlantischen zum Pazifischen Ozean und nach Miami, unverzagt, mutig, er sucht die Menschen auf, er will ihnen zuhören und geht ihnen mit mancher hartnäckigen Frage aufs Gemüt. Er will ihre Lebensweise kennenlernen, um es dem Leser in der Art einer live-Reportage wiederzugeben, er hielt sich bereits »Allein unter Deutschen« (2012) und »Allein unter Juden« (2014) auf.

Antisemitismus

Die Leichtigkeit aber täuscht. Denn schön und bunt sind die Inhalte nicht. Die Lektüre wird vor allem deshalb zum Genuss, weil wir spüren, dass Tenenbom ehrlich ist, frei von Schönfärberei des Mainstream, frei von political correctness, er scheut auch keine Peinlichkeit.

Tenenbom begibt sich an Orte jenseits aller Attrappen. In Detroit sucht er die Rote Zone auf, in Chicago geht er nach South Chicago, nach Englewood: bitterarme Menschen, Trostlosigkeit – ein Anblick, den er nicht einmal in der Dritten Welt gesehen habe.

Tenenboms Stil ist getränkt von jüdischem Humor, anarchisch gegründet, der sich selbst oft nicht ernst nimmt, der mit Vorliebe auch über Glaubensbrüder herzieht – was jedem Nichtjuden augenblicklich als Antisemitismus ausgelegt würde, der Antisemitismusvorwurf ist eine wahrhaft tödliche Waffe der Politik.

 

Unbekümmert

Tenenbom arbeitet auch seine Enttäuschung über die starrsinnige Politik Israels ab, und zwar zurecht in den USA, wo jüdische Verbände und Organisationen sogar noch in der Provinz, in La Crosse, erstaunlich selbstbewusst auftreten.

Enttäuschung natürlich auch, was sein Thema, die USA, betrifft: Soll man sagen, Tenenbom kritisiert? Richtiger wäre vermutlich, zu sagen, dass er unbekümmert das aufschreibt, was er wahrnimmt, und weder um den heißen Brei herumredet noch mit seiner Meinung hinterm Berg hält.

Wiederkehrende Themen

In Minneapolis (382.500 Einwohner) besucht er das führende Theater und stellt fest, es sei »nicht das einzige amerikanische Theater, das es vorzieht, hirntot zu sein«. Auch außerhalb eines Theaters erlebe er häufig, dass niemand an politischen Themen interessiert sei, null, die Leute hätten außerdem geradezu Angst, sich einem Journalisten gegenüber zu politischen Themen zu äußern.

Literarische Qualitäten hat diese »Entdeckungsreise«, weil man sich nach zwei Dritteln der Lektüre zu fragen beginnt, ob sich nicht hinter dem Ich, das als Journalist auftritt, doch eine Kunstfigur verbirgt. Der Konflikt mit jüdischer Orthodoxie, mit dem Bekenntnis zu Israel oder Palästina zieht sich wie eine Obsession durch die Etappen der Reise, von Alaska bis Hawaii, und es gibt andere wiederkehrende Themen: Ureinwohner, LGBT, Rassismus – die zu Floskeln erstarrte Haltung liberaler Gesinnung.

Rassistisch, hasserfüllt, destruktiv

Und nach und nach entdeckt man bei dem Ich, das als Journalist auftritt, auch sehr menschliche Eigenschaften, so eine gewisse Eitelkeit, einen Hang zur Selbstdarstellung, die Neigung, seine Gesprächspartner zu provozieren. Das tut dem Niveau dieser »Entdeckungsreise« keinen Abbruch; zwar staunt der Leser über die Naivität manche Leute, aber Tenenbom geht nicht so weit, dass er sie bloßstellen würde, er bleibt der Besucher eines fremden Landes, der dessen Menschen und Sitten kennenlernen möchte, und manches bleibt ihm fremd.

Er besucht sorgfältig vor dem touristischen Publikum verborgene Elendsviertel auf Hawaii, eine rote Zone wie schon in Detroit. Er entdeckt »zwei Völker, die Demokraten und die Republikaner« – ein zutiefst gespaltenes Land, das rassistisch, hasserfüllt und destruktiv sei.

Keineswegs nachahmenswert

Auch unser eigenes Bild von Amerika hat sich verändert. Noch vor zehn, fünfzehn Jahren wäre es schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen, für dieses Buch einen Verleger zu finden. Amerika, schreibt Tenenbom, werfe die diversen Kulturen in einen gigantischen Kochtopf, in dem die Tiefen, die wertvollen Ursprünge, ausgeschmolzen werden, und übrig bleibe ein »Kindergarten namens Vereinigte Staaten von Amerika«.
Vielleicht weniger ein Kindergarten, als ein Heim für Halbstarke und Pubertierende. Wie auch immer, all das klingt nicht nach einem erstrebenswerten Zustand, ganz im Gegenteil.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Tuvia Tenenbom: Allein unter Amerikanern. Eine Entdeckungsreise.
Berlin: Suhrkamp Nova 2016
463 Seiten, 16,95 Euro
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