In einer Selbstbeschreibung des Historikers Ernst Piper heißt es: »In meinem gesamten Berufsleben ging es immer um Bücher. Ich habe Bücher gelesen, begutachtet, lektoriert, redigiert, rezensiert, herausgegeben, vermittelt, verlegt und einmal sogar gedruckt.« Sein erstes Buch ist 1978 erschienen, inzwischen sind ein Dutzend weitere dazu gekommen. Daneben ist Piper in seinem historischen Fachgebiet Neuere und Neueste Geschichte sowohl als Rezensent wie auch als Publizist tätig. Im Jahr 2018 erschien seine viel beachtete und herausragende Biographie über die Revolutionärin Rosa Luxemburg und bereits 2005 seine Biographie über Alfred Rosenberg, den Chefideologen Hitlers. Von DIETER KALTWASSER
Für den Autor hat die Erinnerung an die Geschichte des 20. Jahrhunderts, den Nationalsozialismus und den Holocaust oberste Priorität: Dazu zählen seine Forschungen zum Deutschen Kaiserreich und zur Geschichte des Antisemitismus vor der nationalsozialistischen Diktatur, ebenso zur »Schuldfrage« und zum Historikerstreit.
Im März wurde Ernst Piper siebzig Jahre alt und er legt mit seinem neuen Buch »Diese Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sich selbst nicht zu kennen – Deutsche Geschichte im Zeitalter der Extreme« eine Art Rückschau vor, die getrost als die Summe seiner historischen Forschungen bezeichnet werden darf. Der Autor hat in seinem sehr empfehlenswerten neuen Buch Aufsätze – teilweise bereits publizierte, aber auch Originalbeiträge – versammelt, die als zentrales Thema die deutsche Erinnerungskultur haben. Die Kernbotschaft von Pipers Buch lautet: »Zur Erinnerung an Auschwitz gibt es keine Alternative.«
Der Sammelband thematisiert weiterhin das ideologische Wirken einiger »Repräsentanten des deutschen Kultur- und Geisteslebens«, wie in den Essays ›Der Orient als Dystopie – Paul de Lagarde und der Mythos der deutschen Nation‹, ›Dona nobis pacem [Schenke uns Frieden] – Ernst Barlach und der Erste Weltkrieg‹, ›Ernst Jünger und der heroische Realismus‹ und ›Nation und Sozialismus – Staat und Gemeinschaft im Denken von Oswald Spengler‹.
Die Vergangenheit, die der Autor meint, ist der Holocaust. Der Titel seines Buches ist ein Zitat des US-amerikanischen Historikers und Holocaust-Forschers Raul Hilberg, der eine Gesamtgeschichte des Holocaust geschrieben hat. Dieses Buch ist 1961 in den USA herausgekommen und wurde erst 1982 in deutscher Sprache vorgelegt – von einem kleinen Berliner Verlag. Es hat in Deutschland Jahrzehnte gedauert, bis der Holocaust als singuläres Menschheitsverbrechen wahrgenommen wurde. »In den Hitlerbiographien der ersten Nachkriegsjahrzehnte kam die Judenvernichtung kaum vor«, heißt es bei Piper. Bei der Darstellung der Kriegsjahre habe das Geschehen an der Ostfront im Mittelpunkt gestanden, »die Mordaktionen an der jüdischen Bevölkerung wurden allenfalls am Rande erwähnt. Es ging mehr um die Taten als die Untaten der deutschen Wehrmacht.«
Der Sohn des Verlegers Klaus Piper und spätere Geschäftsführer des Verlags eröffnet seinen Sammelband nach einem familienbiographischen Rückblick mit der Debatte in der Bundesrepublik um die Verjährung von in der NS-Zeit begangenen und noch ungesühnten Mordtaten; 1969 setzte der Bundestag die Verjährungsfrist für Mord auf 30 Jahre herauf, 1970 hob er sie nach der vierten und letzten Debatte dann ganz auf. Im April 1966 brachte Klaus Piper Karl Jaspers‘ Buch «Wohin treibt die Bundesrepublik?« heraus, das auch eine kritische Bestandsaufnahme des politischen Zustands der Bundesrepublik leistet. Als im Dezember 1966 der einstige Nationalsozialist Kurt Georg Kiesinger Bundeskanzler wurde, schreibt Piper, »gaben Karl Jaspers und seine Frau Gertrud, die schon lange in Basel lebten, aus Protest ihre deutsche Staatsbürgerschaft auf und wurden Schweizer Bürger.«
Die Holocaustforschung indes blieb lange Zeit ein Randthema, mit dem sich vor allem engagierte jüdische Publizisten wie Eugen Kogon, H. G. Adler und Joseph Wulf beschäftigten, erfahren wir vom Autor. Erst in den 1970er und 1980er Jahren entstand die Überzeugung, »dass der Holocaust ein präzedenzloses Menschheitsverbrechen darstellt, das sich durch eine Reihe singulärer Merkmale von anderen Genoziden unterscheidet.«
Der Historiker Ernst Nolte löste mit seinem »Großangriff« auf die Position des Holocausts als singulärem Menschheitsverbrechen im Jahr 1986 den Historikerstreit aus, eine öffentlich geführte Debatte, die im Sommer 1986 infolge eines Artikels von Jürgen Habermas in der Hamburger Zeitschrift ›Die Zeit‹ begann. In seinem Artikel warf Habermas führenden Historikern der Bundesrepublik wie Ernst Nolte apologetische Tendenzen im Umgang mit dem Holocaust vor. Piper schreibt, dass die größte Herausforderung für ihn als Verleger wie auch Herausgeber die Dokumentation des Historikerstreits, die 1987 erschien, gewesen sei.
1963 veröffentlichte Nolte, der ab 1965 in Marburg und später in Berlin als Professor für Neuere Geschichte tätig war, seine Habilitationsschrift »Der Faschismus in seiner Epoche« im Piper-Verlag. »Von diesem Werk führt eine direkte Linie zum Historikerstreit,« so Ernst Piper. »Nach Noltes Überzeugung machten den ideologischen Kern des Nationalsozialismus nicht Rassismus und Antisemitismus aus, sondern der Antibolschewismus«, schreibt der Autor in seinem Beitrag ›Ernst Nolte und der Historikerstreit – Zur Genese eines Konflikts‹.
»Die Judenvernichtung war demgegenüber nach Noltes Überzeugung nur ein ‚Nebenprodukt‘ des NS-Regimes. Nolte brachte das Kunststück fertig«, so Piper, »gleichzeitig die Nähe zum Kommunismus und den unideologischen Charakter des Nationalsozialismus zu postulieren.« 25 Jahre später argumentierte der Historiker Nolte sogar: »Hitler und Rosenberg und Heinrich Himmler waren nicht ursprünglich Ideologen, sondern Künstler, liberale Angehörige freier Berufe, Kleinbürger, die durch ungeheure Ereignisse beunruhigt und verstört waren, die nach Antworten suchten und über die Schwäche ihrer Regierungen erzürnt waren.« In der Sprache heutiger politischer Auseinandersetzung übersetzt, fügt Piper ironisch hinzu, würde man sagen: »Hitler, Rosenberg und Himmler waren ›besorgte Bürger‹.« Ernst Nolte ließ sich von seinem Weg ins Abseits nicht mehr abbringen. »Ernst Nolte in seiner Epoche, das ist die Geschichte eines bedeutenden Gelehrten«, schreibt der Autor am Ende seines Essays, »der sich auf seinem Weg in die diskursive Isolation von nichts und niemandem beirren ließ.«
Titelangaben
Ernst Piper: Diese Vergangenheit nicht zu kennen heißt, sich selbst nicht zu kennen
Deutsche Geschichte im Zeitalter der Extreme
Berlin: C.H. Links | Aufbau 2022
336 Seiten, 26 Euro
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