Gesellschaft | Hannes Hofbauer: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung
Merkwürdig ist schon, wie Russland in der öffentlichen Darstellung gezeichnet wird. Vor einigen Tagen wurde vermeldet, dass das Wirtschaftswachstum dort um drei komma sieben Prozent zurückgegangen sei. Häme, ansonsten strikt verpönt, hält man in diesem Fall für gerechtfertigt, zumal die westlichen Sanktionen diesen Rückgang ursächlich mitverantworten. Gewonnen! Trunken im Erfolgsrausch! Triumphgefühle! Von WOLF SENFF
Russland ist eine fremde Welt. Hier und dort liest man im Netz einen Erfahrungsbericht von Leuten, die das Land besuchten oder sich längere Zeit dort aufhielten, und man kommt aus dem Staunen nicht heraus. Eine fremde Welt, die sogar Sympathien wecken kann, sobald man die hiesigen Schlagzeilen aus dem Kopf bekommt – mehr noch, man hat den Eindruck, die westlichen Schlagzeilen seien Barrieren, die den vorurteilsfreien Zugang blockieren. Nein, sonderlich förderlich ist das nicht.
Reduktion von Armut
Mit ›Feindbild Russland‹ lesen wir eine Publikation, die sich querstellt zu all den höchst erfolgreichen Bemühungen angloamerikanischer Kultur, sich im Alltag zu verwurzeln, sei es Popmusik, sei es der Sport, seien es die Hamburger, sei es der Kaffee. Für Hannes Hofbauer, der sich auf die geopolitischen historischen Entwicklungen konzentriert, wäre zweifellos auch all jenes ein Teilabschnitt der beharrlichen Bestrebungen, Russland bzw. seinerzeit die UdSSR zu vereinnahmen, um dessen Bodenschätze dem kapitalistischen Weltmarkt zu dessen Bedingungen verfügbar zu machen.
Vor allem Hofbauers Beschreibung der Jahre Boris Jelzins weist auf die krassen Gegensätze zwischen den Gesellschaften. Jelzin habe Russland für das internationale Kapital geöffnet, geradezu rasant habe sich Armut unter den einfachen Leuten ausgebreitet, und erst unter Wladimir Putin habe der Staat seine Macht konsolidieren können, steigende Ölpreise sicherten einen ökonomischen Aufstieg, den Worten der Chefökonomin der Weltbank zufolge erlebte Russland »eine beispiellose Reduktion der Armut«.
Dynamik der Konfrontation
Die neue zentralstaatliche Macht demonstrierte ihre Potenz im Oktober 2003 in der Verhaftung des russischen Ölmagnaten Michail Chodorkowski, der den mächtigsten russischen Energiekonzern Jukos an den US-Konzern Exxon-Mobile hatte verkaufen wollen, ohne sich zuvor mit der Regierung ins Benehmen zu setzen. Verhaftung und Verurteilung seien für den Westen eine schockierende Erfahrung gewesen; denn im Westen diktiere in Wirtschaftsfragen stets das Kapitel die Regeln für staatliches Verhalten, umgekehrt sei undenkbar.
Und spätestens seit diesem Ereignis sei im Westen erneut eine Dynamik aufgebrochen, die, wie Hofbauer herausarbeitet, historisch seit Langem wirksam gewesen sei, durch wenige kurze Phasen einer Entspannungspolitik unterbrochen. Diese Art Geopolitik, die uns nun seit einiger Zeit nicht nur seitens der USA, sondern auch von ambitionierten europäischen Machtpolitikern vorgeführt wird, muss dem unbefangenen Leser wie ein Sandkastenspiel miserabel sozialisierter Machthaber erscheinen, ein Kasperletheater.
Der Russe war’s
Wer die Nachrichten verfolgt, weiß seit Längerem, dass NATO und EU ihren Einflussbereich gezielt ausdehnen; die Triebkräfte für die Ost-Erweiterung der NATO 2004 und 2008 sieht Hofbauer schon seit den neunziger Jahren in Deutschland aktiv. Auch das Dislozieren US-amerikanischer Raketensysteme in Osteuropa sei Teil einer Strategie der Einkreisung Russlands.
In Hofbauers Kapitel über die Ukraine wird deutlich, dass westliche Politik das Theater mit Vorliebe als Unschuldslamm betritt. Nur hinter den Kulissen tobt ein Kampf um Deutungshoheit. Es geht unter anderem um die (nicht aufgeklärten) Schüsse auf dem Majdan am 20. Februar 2014, um den (nicht aufgeklärten) Abschuss des Linienflugs der Malaysian Airlines am 17. Juli 2014, und dem Abonnenten hiesiger Presseorgane blieb eh längst in Erinnerung: Der Russe war’s.
Gehässig, rachsüchtig, intrigant
Die Ukraine sei in keine beneidenswerte Lage gebracht. Während staatliche Infrastruktur weitgehend lahmgelegt sei, würden kapitalkräftige Konzerne nach den Rosinen picken: ›land grabbing‹ führe zum Ausverkauf der für ihre Fruchtbarkeit bekannten Böden vor allem in der südlichen Ukraine, bis Ende 2015 seien bereits Flächen von der Größe Sachsens veräußert. Parallel dazu seien Monsanto, Cargill und Dupont, alle USA, vor Ort tätig und würden die Agrarriesen mit Düngemittel, Pestiziden, Saatgut versorgen.
Dieses sind die realen Abläufe, über die in der westlichen Öffentlichkeit Stillschweigen gewahrt wird. Da treten ›unsere‹ Medien doch lieber gehässig und rachsüchtig wie alte Weiber auf; Hofbauer zeigt dies am Umgang mit Anna Netrebkow, an der Skandalisierung der ›Nachtwölfe‹ und an den Versuchen, sogar Waleri Gergijew, den künftigen Chefdirigenten der Münchner Philharmonie, auf die übliche intrigante Weise verächtlich zu machen – ein Putinfreund halt, das seh’n sie nicht gern.
Neueste Technologien
An der Energieversorgung jedoch treten die geopolitischen Konfliktzonen offen zutage. Das russische South Stream Projekt einer Gas-Pipeline zwecks effektiverer Versorgung Europas sei seitens der EU aus politischen Gründen inklusive politischen Drucks aus den USA beendet worden.
Neue Gasverflüssigungsverfahren würden gar den transatlantischen Transport von Gas ermöglichen, wofür die USA vorwiegend gefracktes Gas einsetzen, dass man sich fragt, wie lange unsere ›global player‹ den ökologischen Irrsinn noch fortsetzen werden – aber real ist das keine Frage, denn die Logik des Kapitels, wie man weiß, kennt keine Einsicht, keine Vernunft. Entweder sie wird von außen gezügelt oder sie rennt zügellos ad infinitum.
Falken im Aufwind
Hofbauer zufolge ist Russland in einer ökonomisch widersprüchlichen Situation, sowohl neoliberale Projekte – Verkehrs- und Gesundheitswesen – würden umgesetzt, aber auch Verstaatlichungen, diese vor allem im Maschinenbau und Energiebereich, und nach wie vor sei Russland sozial durch extreme Klassengegensätze geprägt; seit Jelzin würden Oligarchen unverändert ihr Kapitel außer Landes schaffen, anstatt es zu reinvestieren.
Eine kooperative Haltung der westlichen Politik sei jedoch nicht erkennbar, und letztlich seien es »Ängste vor einem Hegemonieverlust«, die das neuerliche Schüren des so vertrauten Feindbildes ausgelöst hätten.
Titelangaben
Hannes Hofbauer: Feindbild Russland. Geschichte einer Dämonisierung
Wien: Promedia 2016
303 Seiten, 19,90 Euro
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