Gesellschaft | Inge Jens: Langsames Entschwinden
Als der große Denker und Rhetorikprofessor Walter Jens an Demenz erkrankte, war die Krankheit noch weitgehend mit einem Tabu belegt und in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit wenig präsent. Auch Inge Jens musste erst lernen, nach und nach mit der Diagnose und dem wachsenden Einschränkungen ihres Ehemannes umzugehen. ›Langsames Entschwinden‹ vereint eine Sammlung ausgewählter Briefe aus acht Jahren mit einem mutigen und klugen Plädoyer für eine angemessene Pflegesituation. Von INGEBORG JAISER
Walter Jens war Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher, essayistischer und belletristischer Werke, hatte Deutschlands ersten Rhetorik-Lehrstuhl inne, galt als »intellektueller Popstar« (wie es sein Sohn Tilman einmal formulierte) und höchst streitbarer Geist. Durch und durch ein Mann des Wortes, der zuweilen auch die Rolle des »universal gebildeten Rebellen« einnahm. Über 60 Jahre währte die Ehe mit Inge Jens, die ihm stets eine verlässliche, geistig ebenbürtige und kritische Weggefährtin, Partnerin und Co-Autorin war. Die zuletzt gemeinsam publizierten biographischen Werke ›Frau Thomas Mann‹ und ›Katias Mutter‹ entwickelten sich geradezu zu Bestsellern.
Ausfälle und Ängste
Doch um Walter Jens‘ 80. Geburtstag herum zeigten sich erste Ausfälle: Erst vermied er öffentliche Diskussionen, dann konnte er bei einer Signierstunde plötzlich seinen Namen nicht mehr schreiben, schließlich reagierte er auf unbekannte Situationen nur noch mit Angst und Aggression. Als bei ihm 2003 Demenz diagnostiziert wurde (infolge einer progredient verlaufenden Mikro-Angiopathie), wollte es seine Ehefrau erst nicht wahrhaben, klammerte sich lange an die vage Hoffnung auf Besserung. Oder, wie sie später bekannte: »Wie lange habe ich – aus Unwissenheit, aber wohl auch Angst vor der Unumkehrbarkeit des Befundes – um den Kern des Problems herumgeredet.«
Nun ist eine Auswahl der Briefe erschienen, die Inge Jens in den Jahren 2005 bis 2013 an Freunde und Bekannte geschrieben hat, in denen sie vom wechselvollen Befinden und den zunehmenden Veränderungen berichtet und damit auch viel für die Enttabuisierung der Krankheit getan hat. Alle Empfänger wurden anonymisiert, tauchen lediglich als »gemeinsamer langjähriger Freund«, »befreundeter Musiker« oder »emeritierter Pfarrer« auf. Waren die Briefe niemals als Selbsttherapie gedacht, eher dem Wunsch entsprungen, nahestehenden Menschen freimütig Rede und Antwort zu stehen, geben sie retrospektiv in ihrer Abfolge doch ein beredtes Zeugnis über den unaufhaltsamen Verfall – und die Anpassungen, zu denen Inge Jens während der 10 Jahre andauernden Erkrankung ihres Mannes fähig war.
Was lebt, will leben
Wie quälend muss es gewesen sein, zu erleben, dass gerade Walter Jens, dem die Sprache ein unverzichtbares Lebenselixier war, die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben verloren ging, nach und nach auch das Sprechen entglitt: »Die Schwierigkeit ist, dass mein Mann häufig nicht in der Lage ist, das was er sieht, denkt, empfindet, in jenen Begriffen auszudrücken, die sich in unserer Sprachkonvention für diese Dinge nun einmal eingebürgert haben.« Doch Inge Jens vermutete: »Er denkt ausschließlich mit dem Gefühl.« Und sie richtete sich nach und nach mit seiner »anwesenden Abwesenheit« ein. Nur mit einem Dilemma haderte sie oft: dass sie ihrem Mann, der ein Verfechter des menschenwürdigen, selbstbestimmten Sterbens war, zu lange die Demenzdiagnose verschwiegen hatte. Dennoch vermochte sie seine gelegentlichen Aussagen »Ich will sterben« sehr einfühlsam zu interpretieren, nämlich als Wunsch, dieser Zustand äußerster Einschränkungen möge sich ändern. Ansonsten konstatierte sie pragmatisch: »Was lebt, will leben.«
Arrangement mit dem Unabänderlichen
Und Inge Jens wusste ihre eigene begünstigte Lage zu schätzen. Mithilfe zweier privat engagierter Pflegekräfte und einem Netzwerk von Helfenden vermochte die promovierte Literaturwissenschaftlerin auch als über 80-Jährige ihrer Arbeit nachzugehen und kurze Lesereisen zu absolvieren. Gleichermaßen ein Privileg wie pure Notwendigkeit: »Aber ich muss auch reisen, vorlesen und Vorträge halten, um die Pflege meines Mannes zu finanzieren. Die gewiss nicht schlechte Professoren-Pension reicht bei Weitem nicht aus.«
Diese Briefe diskutieren sehr differenziert ethische und praktische Fragen zwischen Fürsorge und Selbstbestimmtheit, zwischen Nicht-Wissen und Anpassungsfähigkeit. Während des fortschreitenden Krankheitsverlaufes lernte Inge Jens, sich mit dem Unabänderlichen zu arrangieren und zu akzeptieren, dass ihr Mann in einem neuen Bezugssystem lebte, das weitab von seiner intellektuellen Vergangenheit lag. »Aber dennoch: Er ist ein Mensch, und er bleibt ein Mensch – allen Einschränkungen zum Trotz, und ich lerne, was ein Mensch auch sein kann.«
Titelangaben
Inge Jens: Langsames Entschwinden
Reinbek: Rowohlt 2016
160 Seiten, 14,95 Euro
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