Es wird sich schon alles fügen

Film | Fimfestival Mannheim-Heidelberg. Reykjavik: Ein Film von Ásgrímur Sverrisson, Island

Immer wieder hat es Filmbe- oder verurteilende gegeben, die irgendwann meinten, sie könnten es auch, möglicherweise sogar besser als diejenigen, deren Arbeit sie analysierten, bewerteten. Häufig ist es schief gegangen, sind mäßig intelligente oder auch wenig unterhaltsame Streifen zusammengedreht und auch -geschnitten worden. Andererseits überwiegen die aus dem Aufbegehren der Theoretiker hervorgegangenen absoluten Größen, die gegen diejenigen anschrieben, die häufig literarische Stoffe blutleer und lustlos verfilmten. Von DIDIER CALME

Die amerikanische Nacht. (La Nuit américaine), ein Film von François Truffaut. Die Videothek in Reykjavik
Die amerikanische Nacht. (La Nuit américaine), ein Film von François Truffaut. Die Videothek in Reykjavik
Die französische Nouvelle Vague, die sich daraus ergebenden Kinohefte Cahier du Cinéma sind ein herausragendes Beispiel dafür, wie Theorie in Praxis umzusetzen ist: Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, Éric Rohmer oder François Truffault. Das sind auch die Namen der Regisseure, die in Reykjavik, dem Film des Isländers Ásgrímur Sverrisson, ehrfürchtig immer wieder zur Sprache kommen.

Island ist zwar eine wunderschöne große Insel, die jedoch näher an Grönland liegt als an Skandinavien, von wo aus es besiedelt wurde, hat allerdings mit insgesamt rund 330.000 Einwohnern gerade etwas mehr als Mannheim (306.000), die Filmfest-Partnerstadt Heidelberg hat mit 160.000 um einiges mehr an Menschen aufzuweisen als die isländische Hauptstadt (120.000). Doch was besagen schon solche Größenvergleiche? Der Regisseur Ásgrímur Sverrisson hat in der Stadt und somit auf der Insel eine Art isländisches Cahier du Cinéma aufgebaut, das Filmmagazin Land & synir, hat den isländischen Film- und Fernsehpreis Edda-Awards gegründet sowie das erste Kunst-Kino Reykjavíks eröffnet. Er unterrichtet an der dortigen Filmhochschule, moderiert im Fernsehen, schreibt Drehbücher und hat mehrfach Regie geführt bei Kurzfilmen.

Ásgrímur Sverrisson
Ásgrímur Sverrisson
Abb: Þormar Vignir Gunnarsson / DV
Es ist naheliegend, daß es sich bei Sverrisson um ein wandelndes Filmlexikon handeln muß. Daraus scheint letztlich der Film Reykjavík entstanden zu sein. Zehn Jahre lang hat er wohl Zitate aus den bekanntesten Filmen in seinem Kopf bewegt, um sie in einer Videothek zu lagern. Doch in dem sehr technikfreundlichen Island, in Reykjavík, das 2010, nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, nach dem über Nacht niemand im Land kein Geld mehr hatte für die (ohnehin nicht benötigten) schönen Dinge des Lebens – die möglicherweise deshalb im Film immer wieder in den Vordergrund zu geraten scheinen– , den Anarcho-Surrealisten Jón Gnarr zum Bürgermeister wählte und der Stadtrat aus ehemaligen Punkrockern bestand, ist das Interesse an Filmgeschichte offenbar erlahmt. Nahezu alle diese gehobenen Mittelständler verfügen über einen dieser Klappcomputer, selbstverständlich von Apple, mit deren Hilfe sie sich die neuesten Filme aus dem Internet herunterladen. Kaum noch jemand besucht Hringur (Atli Rafn Sigurðsson) in dessen Videothek, um, wie einst bei den Buchhandlungen, mit äußerst vagen Angaben und wenigen Sätzen über Inhalte, hier zu einem Ergebnis via DVD zu gelangen. Nicht einmal der Begriff Cinéast taucht noch auf, Film-Nerds werden sie nun genannt. Von den wenigen kann Hringur nicht leben. Hringur ist schlicht pleite. Gerade wollte er sich gemeinsam mit seiner Gattin (Nanna Kristín Magnúsdóttir), einer Stewardess der Fluggesellschaft Icelandair, noch ein schönes großes Haus kaufen, eines dieser vielen stillosen, aus allen möglichen Materialien zusammengeflickten Häuser in dieser »Frontierstadt im Wilden Westen«, wie Constantin Seibt sie im Tages-Anzeiger bezeichnete, da soll ihnen auch schon die Wohnung weggepfändet werden.

Elsa und Hringur bei der Hausbesichtung
Elsa und Hringur bei der Hausbesichtung

Überhaupt ist Hringur kein übermäßig interessanter Mann, und er ist eben an nichts anderem als an alten Filmen interessiert. Seine Frau Elsa mochte an ihm seine Natürlichkeit, auch waren anfänglich Anflüge von Leidenschaft zu sehen. Tatsächlich entsteht der Eindruck, die Zärtlichkeit könnte sich auf das Töchterlein verlagert haben. Hringur reicht Elsa nicht mehr aus, er ist ihr nicht normal genug. nicht einmal schwimmen gehe er mit ihnen. Deshalb möge er aus der Wohnung ausziehen; sie für sich zu behalten, dabei helfe ihr ihr Vater. Das Sorgerecht für die Tochter soll aufgeteilt werden, halbiert soll sie werden, jeweils eine Woche bei Mama, eine bei Papa verbringen; über den Wochentag des Kindwechsels wird debattiert. Hringur zieht in seine Videothek aufs Sofa und vermüllt vor sich hin.

Doch er nimmt ohnehin alles recht gelassen, was sicherlich dem Isländer ohnehin eigen ist; hinzugekommen sein dürfte allerdings die Erfahrung: Nach der Finanzkrise 2008 mußte, wer Kredit für ein Auto aufgenommen hatte, diesen nun eigentlich in der Höhe eines Hauses abbezahlen. Doch die Isländer haben die Schulden der Banken schlicht ignoriert. Es wird sich schon alles irgendwie wieder einrenken, es gibt für alles eine Lösung. Herbeigeführt hatten die ausgerechnet die nach 2010 für vier Jahre regierenden Punks um Jón Gnarr, die nicht nur den Haushalt sanierten, sondern sogar noch den ebenso kaputten staatlichen Energiekonzern reparierten.

Doch von Punk und Anarcho-Komikern ist in Reykjavík nichts mehr zu sehen und zu hören. Die sind, wenn auch erfolgreich, abgetreten, die Politik wird wieder von richtigen Politikern betrieben. Alles geht wieder seinen gewohnten Gang. Mein Haus, mein Auto, et cetera. Mittelstandssorgen von Enddreißigern bis Mittvierzigern. Und dazu gehören, wie in irgendeiner anderen mitteleuropäischen Großstadt auch, Beziehungsprobleme. Die Filme von Woody Allen stehen beim Filmbeobachter in Verdacht, diese gesellschaftliche Nouvelle Vague ausgelöst zu haben, unter der sämtliche anderen Probleme aus dem Bewußtsein der Besserverdienenden geschwemmt worden sind. In diesem Sinn schwabbelt es auch kurz vor Grönland mitteleuropäisch zivilisiert in den Gehirnen. Kaum Isländer aber auch, die nicht an einer Hochschule in Barcelona, Bologna, München, Paris, Zürich, zumindest aber, der Nähe wegen, in Hamburg studiert haben, häufig etwas mit Kunst und/oder Medien. Manche sind zwar in den jeweiligen Ländern ihrer geistigen Aufrüstung geblieben, doch viele sind zurückgekehrt auf die Insel und haben neuerliche Eigenheiten eingeführt. So gärt es derartig denn auch in Reykjavík unter Freunden, ein ständiger Austausch aller erdenklichen Flüssigkeiten findet statt. So erscheint es nur logisch, daß Tolli (Gudmundur Thorvaldsson) dem von der Ehefrau verlassenen Hringur unterstellt, der habe sich an seine zwanzigjährige Tochter herangemacht, weshalb der sehr wikingerische Medienmarktmann den eher schlaffen, dem Schöngeistigen zugeneigten trolligen Videothekier, dem er unlängst noch eine Stelle als Leiter der Abteilung Spielfilm angedient hatte, im Boxring einer Fitneßbude noch fürchterlicher als sonst verprügelt. Dabei war es der Nachwuchs des bärenstarken Kämpfers, der sich das Weichei ins Haus holte, während die Altvögel ausgeflogen (und verfrüht zurückgekehrt) waren.

Diese Maria (Grima Kristjánsdóttir) nämlich war bei Hringur in dessen Videothek wie aus dem Nichts aufgetaucht, hatte verschmitzt lächelnd nach einem Film gefragt, dessen Titel sie nicht nennen konnte oder vielleicht auch aus liebesspielerischen (Hinter-)Gründen nicht nennen wollte (zum Ende von Reykjavík stellt sich heraus, daß sie an der Filmhochschule studiert und sie eben diesen Film-Nerds zuzuordnen ist), lediglich eine vage Umschreibung davon abgab und die der Fachmann dann vollendete: Sie suche also einen Film, von dem man nicht will, daß er aufhört und in dem am Ende immer irgendjemand einen anderen kriegt als den, den er haben wollte, und damit schloß: Nein, den habe er nicht.

Allein, bei Hringur scheint es zunächst anders auszugehen als im Kino. Seine Elsa scheint sich mit den anderen Langweilern noch mehr gelangweilt zu haben als mit dem von ihr geheirateten und geschiedenen, der sich deshalb selbst nicht als traurig, sondern als kompliziert bezeichnet, der nicht das sein mag, was sie sich von ihm wünscht: normal sein. Nach einer Weile der Trennung bittet sie ihn zu sich und der Tochter in die alte Wohnung zurück. Sie besichtigen zum scheinbar guten Ende hin sogar ein Haus, das dem Zuschauer recht bekannt vorkommt. Normalität kann sehr komisch sein. Zum Ende kriegen die beiden sich dann allerdings doch wieder nicht. Aber Hringur kommt letzten Endes auch mit Maria nicht zusammen. Die hat sich nämlich inzwischen mit seinem ehemaligen Mitarbeiter der Videothek zusammengetan, der lange sehr unter der Trennung von einer anderen litt, die zwar zu ihm zurückwollte, doch da war es bereits zur Paarung der beiden Film-Nerds von der Filmhochschule gekommen. Und Hringur verdingt sich fortan in diesem Kaufhaus für Medien, in dem niemand aus alten Filmen zitieren kann. Es ist kompliziert. Am Ende kriegt immer irgendjemand etwas anderes als das, das er haben wollte.

Maria mit Gefährten bei der Hochzeit ihres Vaters Tolli, der auch eine andere gekriegt hat
Maria mit Gefährten bei der Hochzeit ihres Vaters Tolli, der auch eine andere gekriegt hat
Spielen könnte dieses Drama der schwierig zu bewältigenden Gefühle, wie erwähnt, zwar überall dort, wo zivilisatorischer Überdruß ausgeschwitzt wird, erzählt ist es allerdings in einer Weise, das ein Spezifikum hervorhebt: Isländer unterscheiden sich deutlich von den Europäern der Neumoderne, sie verfügen über eine Gelassenheit, über einen verschmitzten, hintergründigen, listigen (trolligen?) Humor, den zu genießen der Filmbeobachter mehrfach Gelegenheit hatte. Hinzu kommt noch diese unbändige Kraft, die jede deutsche, französische oder sonsteuropäische zur Lächerlichkeit reduziert. Als Beleg dafür sei angeführt die launige Notizensammlung mit dem Titel Hintergrundssons und -dóttirs von Constantin Seibt, der als Korrespondent des Zürcher Tages-Anzeiger offensichtlich jede Gelegenheit nutzt, auf die Insel kurz vor dem ewigen Eis zu reisen. Möglicherweise tut er es auch der Frauen wegen, von denen es bei ihm heißt, «in den isländischen Sagas sei immer wieder die Rede von irischen Prinzessinnen, die von den Wikingern auf ihren südlichen Raubzügen entführt wurden. Ein Sprichwort besagt, dass die schönen Mädchen so nach Island kamen, der Rest in Britannien blieb.» Und er stellt im Unterton offenbar mit einer gewissen Bewunderung fest, daß »das Bauamt bei grösseren Projekten regelmässig einen Elfenspezialisten« hinzuzieht. »Neben 330’000 Menschen leben in Island auch 13 Elfenarten und eine grosse Anzahl Gnome und Trolle.«

Troll Hringur und Elfe Elsa in ihrer anderen Filmwirklichkeit
Troll Hringur und Elfe Elsa in ihrer anderen Filmwirklichkeit

Die erwähnte politische Kampfkraft, die vermutlich durch elfischen, gnomischen und trolligen Geist zusätzliche Nahrung erhält (»laut Umfragen glauben 60 Prozent der Isländer an die Existenz des unsichtbaren Volks«), beschrieb Seibt am 30. Juni dieses Jahres:

»2007 begründete Islands Präsident Geir Haarde den Erfolg von Islands Banken mit dem Killerinstinkt der Isländer: Wir sind Wikinger! Am 24. September 2008 ging in New York die Lehman-Bank pleite, eine Woche später Island selbst. Die drei grössten Banken brachen zusammen und hinterliessen Schulden in der zehnfachen Höhe des Bruttosozialprodukts. Mit ihnen gingen unzählige Firmen und Privatpersonen bankrott, denen die Banken Riesenkredite gewährt hatten. ›Gott schütze Island!‹, sagte Präsident Haarde am Fernsehen.

Als einziges Land weigerte sich Island, die Schulden seiner Banken zu übernehmen. Und stellten die Topbanker vor Gericht. Die EU tobte, die Briten drohten mit Antiterrorgesetzen, die Presse schrieb, Island würde auf Jahrzehnte keinen Kredit mehr bekommen. Innert weniger Jahre erholte sich die Insel. Die Wirtschaft stellte um auf Fisch, Kunsthandwerk und Tourismus. Präsident Haarde begründete den Erfolg mit der ‹natürlichen Kreativität› der Isländer.«

Diese natürliche Kreativität schillert in Ásgrímur Sverrissons Reykjavík überall durch wie das Nordlicht Aurora borealis, hier vielleicht als Metapher gleichzusetzen dem eingefilterten Blau inTruffauts Amerikanischer Nacht. Alleine ihretwegen dürfte der Film in deutschen oder französischen oder sonsteuropäischen Kinos für Erheiterung sorgen. Vielleicht können wir zum guten Ende hin daraus sogar lernen. Man muß nicht unbedingt auf Isländisch filmzitieren können, um das zu verstehen. Es wird sich schon alles fügen. Að lokum gengur allt upp.

| DIDER CALME

Titelangaben
Reykjavik
Buch und Regie: Ásgrímur Sverrisson
Darsteller/Cast
Hringur: Atli Rafn Sigurðsson
Elsa: Nanna Kristín Magnúsdóttir
Tolli: Gudmundur Thorvaldsson
Maria: Gríma Kristjánsdóttir
Margrét Friðriksdóttir, Björn Thors u.v.a.
Musik/Music:Sunna Gunnlaugs
Kamera: Néstor Calvo
Schnitt: Ragnar Vald Ragnarsson

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