Auf der Suche nach dem Ursprung

Kinderbuch | Manfred Schlüter: Am Anfang sagte der Apfel

Irgendwann muss alles einmal angefangen haben. Wie, das wissen wir nicht. ANDREA WANNER hat die Schöpfungsgeschichten von Manfred Schlüter gelesen.
 
Schlüter - Am Anfang sagte der ApfelErklärungsversuche für den Beginn bietet die Bibel. »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.« heißt es im Johannesevangelium. »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde«, steht auch in der Bibel. Aber neben der Schöpfungsgeschichte der christlichen Religion gibt es unzählige Schöpfungsmythen anderer Völker und Kulturen. Aber weil es niemand weiß, kann man ja auch mal ganz anders darüber nachdenken. So wie es Manfred Schlüter getan hat, in alphabetischer Reihenfolge seine Akteure, die Tiere, Menschen, Dinge oder Naturphänomene, ja sogar Gott selbst sein können, zu Wort kommen lässt. Jede und jeder von ihnen erlebt die Welt anders, hält anderes für wichtig und unverzichtbar und baut daraus eine eigene Geschichte vom Anfang.
 
Wie stellt sich denn beispielsweise eine Maus den Anfang vor? Klar, Mäuse denken an etwas ebenso Naheliegendes wie Schönes: Käse. Ein riesengroßer Käse, in dem eine Maus und ein Mäuserich leben, ist der Ursprung allen Lebens, wird nach und nach ausgehöhlt und bietet dadurch Platz für die ganze Welt. Ein Vogel? Der stellt sich den Anfang als großes Ei vor, für einen Denker bestehen zunächst nur Fragen, hinter denen große Fragezeichen stehen. Ein Kuss träumt sich den Anfang als großes Gefühl, das dazu führt, dass zwei Münder zueinanderfinden. Für das Chamäleon ist es ein allumfassendes Grau und eine Ururururururgroßmutter, die sich gegen diese Tristesse die Farben ausdenkt. Und Gott selbst? Der gesteht seine eigene Ratlosigkeit am Anfang, weil es ja nichts Vergleichbares gegeben habe. Und so ganz genau erinnert er sich auch gar nicht mehr an den Anfang von allem, weil das alles schon so lange zurückliegt.
 
Befragt werden Tisch und Stein, Hering und Uhr, Lied und Fliege. Schlüter reiht 25 ganz unterschiedliche Geschichten aneinander, für jeden Buchstaben des Alphabets einen – nur X und Y werden zusammengefasst und haben eine gemeinsame. Wie Gedichte sehen sie aus, die kurzen Texte. Verdichtete Prosa, die mit Anaphern und Wiederholungen arbeitet, mit Alliterationen und ungewöhnlichen Bildern. Dabei sind sie schlicht und eingängig, schon für die Kleinen verständlich und dabei zum Staunen und Wundern. So wie die Illustrationen. Für jedes Konzept ein Bild: beim Chamäleon einen Farbkasten mit unterschiedlichen Grautönen in den Farbschälchen, nur im Deckel ein paar bunte Farbsprengsel, Andeutung und Versprechen zugleich. Eine Armbanduhr mit einem Bild von Menschen in einem Boot auf dem Ziffernblatt, aber keine Zahlen und keine Zeiger. Zeitlose Zeit, in der die Uhr ihren Ursprung hat. Papierschiffchen aus Zeitungen auf einem weiten Ozean, von dem die Insel erzählt, von einem Anfang, wo es nur Wasser gab. Zurückhaltende, gedämpfte Farben dominieren diese Bilder, die zeitlos wirken und die Dinge und Lebewesen in einem merkwürdigen Nicht-Raum zeigen. Verortet in einem Irgendwo, das wir nur erahnen und nicht wirklich verstehen können.
 
Beim Buchstaben Z kommt der Zettel zu Wort, für den der Anfang der Welt ein Weiß ist. Ein Weiß wie das des Papiers. Unbeschrieben, das aber Platz bietet für Gedanken, Ideen, Geschichten – von denen niemand genau weiß, woher sie kommen. Was für eine wunderschöne Idee. Und was für ein kluges Buch zum Nachdenken, Philosophieren, Träumen und Weiterspinnen sich Manfred Schlüter ausgedacht hat. Von vielen Möglichkeiten, die alles offen lassen und die Welt, wie wir sie kennen, in ihrer Rätselhaftigkeit und Unendlichkeit andeuten.

| ANDREA WANNER

Titelangaben 
Manfred Schlüter: Am Anfang sagte der Apfel
Etwas andere Geschichten von der Schöpfung von A bis Z
Wien: Bibliothek der Provinz 2016
60 Seiten, 20 Euro
Bilderbuch für jedes Alter
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Der diskrete Charme der Anarchie

Nächster Artikel

Der Wanderer und sein Schatten

Weitere Artikel der Kategorie »Kinderbuch«

Gespielte Harmlosigkeit

Heinz Janisch und Helga Bansch: Wir sind alle nett – von A bis Z Kindergärten sind Orte, wo man Kinder sicher und gut aufgehoben weiß, wo zuverlässiges Fachpersonal sich um die Kleinen kümmert, wo sie unter Aufsicht spielen, toben und lernen. Oder? ANDREA WANNER staunte über das, was in einer Kindergruppe so abgeht.

Grenzerfahrungen

Kinderbuch | Julia Rosenkranz: Als Mama einmal unsichtbar war

Krebs ist eine für Kinder schwer fassbare Krankheit. Was soll man sich unter kranken Zellen vorstellen, die jemand im Körper hat? Nein, Krebs hat nichts mit dem gleichnamigen Tier zu tun, das man wenigstens sehen kann. Ein Bilderbuch begleitet Kinder auf dem Weg, wenn jemand in der Familie an Krebs erkrankt ist. Von ANDREA WANNER

Zwei wie Pech und Schwefel

Kinderbuch | Lorenz Pauli, Kathrin Schärer: Rigo und Rosa Eine Freundschaft zwischen Katz und Maus? Kann das gutgehen? Vielleicht, wenn die Katze eine sehr große Katze ist. Genauer gesagt ein Leopard. Und wenn die Maus eine normalkleine, aber sehr vertrauensvolle Maus ist. So wie Rigo und Rosa. Dann könnte das klappen. Was heißt »könnte«? Dann klappt das. ANDREA WANNER ist beeindruckt.

Auf der Suche

Jugendbuch | Tracy Holczer: Löffelglück Trauer macht manchmal blind für neue Wege und Möglichkeiten, für angebotene Hilfestellung und Freundschaft. Das braucht es Geduld von allen Seiten, bis es wieder so etwas wie Glück geben kann. Von ANDREA WANNER

Märchenstunde, gruselschön!

Kinderbuch | Paul Biegel: Der Fluch des Wüstenwolfs   Wenn die Märchenstunde schlägt, werden auch heutzutage noch die Ohren gespitzt, nicht nur von Kindern. Wenn einer wie Paul Biegel erzählt, kann man sicher sein, dass für jede und jeden etwas dabei ist. Abenteuer und Spaß, Gespenstisches und Nachdenkliches, Räuber, Magie und natürlich Liebe. All das findet sich auch in der gerade erschienenen Geschichte ›Der Fluch des Wüstenwolfs‹. Dass einer bei der gruselig-schönen Märchenstunde hin und wieder fast der Atem stockt, ist genau so sicher. Von MAGALI HEISSLER