Gesellschaft | Michael Hudson: Der Sektor. Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört
Die europäische Politik habe nichts aus den zwanziger Jahren gelernt. Das ist der Vorwurf. Denn in Versailles seien Deutschland Schulden auferlegt worden, so hoch, dass sie unbezahlbar waren. Schäubles Austeritätspolitik vollziehe gegenwärtig dasselbe mit Griechenland. Sparpolitik habe sich nie an den Interessen der Menschen orientiert. Von WOLF SENFF
Der Sparpolitik gehe es darum, öffentliche Ausgaben für Bildung, Infrastruktur etc. einzuschränken. Die gekürzten Beträge würden den Gläubigern bzw. Banken zugeführt, d. h., es werden deren Zinsen bedient, mit denen sich die dahinterstehenden, wie sie Hudson nennt, ›Rentiers‹ bereichern ohne Ende. Sie führen mit diesen leistungslosen Einkommen laut Hudson eine parasitäre Existenz, sie saugen ihre Wirte, die öffentlichen Haushalte, aus, ohne dass diese überhaupt wahrnähmen, was real geschieht.
Ein-Prozent-Krösusse
Die vorherrschende ökonomische Meinung zensiere jede Darstellung, die staatliche Intervention nicht kritisch darstelle und Gläubiger bzw. Banken nicht positiv einschätze – schon sind wir bei den Themen ›Mainstream‹ und ›Lügenpresse‹. Die meisten Menschen nähmen demzufolge die Realität von Wirtschaft und Gesellschaft exakt so wahr, wie sie ihnen von dem ›Einen Prozent‹ der Super-Krösusse medial aufgetischt werde – eine komplett entstellte Wirklichkeit.
Die exzessive mediale Börsenberichterstattung bilde nicht etwa – wie das unvoreingenommene Publikum glauben gemacht werde – erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung ab, sondern das wachsende Vermögen der Ein-Prozent-Krösusse, das keineswegs den materiellen Reichtum einer Gesellschaft vergrößere, sondern auf Zinserträgen beruhe, auf Preissteigerungen bei Immobilien etc.
Öffentliche Etats und Demokratie
Niemand kommt daran vorbei, Michael Hudson ernst zu nehmen. Er genießt hohes Ansehen, wahrt stets Distanz zur etablierten Ökonomie und liegt mit Thesen und Prognosen auf der richtigen Spur. Niemand würde ihn als Verschwörungstheoretiker bezeichnen, und man fragt sich mit Michael Hudson, weshalb die Politik so offensichtlich gegen die Interessen ihrer Völker handelt. Armut fällt nicht vom Himmel, sondern ist Ergebnis von armseliger Politik.
Hudson sieht in den vergangenen Jahrhunderten die Tendenz, leistungslose Einkommen, also aus Landbesitz und Ressourcen abgeschöpfte Gewinne, aus Besitz von Adel und Fürstenhäusern in den Besitz der öffentlichen Hand zu überführen; dieses war politisch begleitet von sich etablierenden demokratischen Strukturen. Auch die von Sun Yat-Sen angeführte Revolution in China 1911, die zum Sturz der Qing-Dynastie führte, entbrannte aufgrund von Forderungen nach angemessener Besteuerung des Grundeigentums.
Unvergessen Frau Thatcher
Ebenso selbstverständlich, so Michael Hudson, hätten die meisten Länder Europas zunächst die grundlegende Infrastruktur in öffentlicher Hand belassen – Straßennetz, Eisenbahnlinien, Kommunikationssystem, Energie- und Wasserversorgung, Bildungs- und Gesundheitswesen sowie die Pensionsfonds. Diese Bereiche konnten in staatlichem Besitz kostengünstig arbeiten, Monopolbildung inklusive Abschöpfung von Gewinnen in private Hand fand nicht statt.
Der heutzutage über Wirtschaft und Politik herrschende Finanzsektor habe mit diesen Zielen nichts mehr am Hut. Seit etwa 1980 würden Infrastrukturbereiche mit wachsendem Tempo zu Monopolen umgestaltet, die private Renditen abwerfen. Dieses radikal thatcheristische Konzept der Finanzwirtschaft, das ausschließlich auf Gewinnmaximierung zielt, lasse die industriellen Bereiche ausbluten. Die ökonomische Rendite, so laute die kompromisslose Parole, sei zur Zinstilgung da, nicht aber für Neu-Investitionen. Hier bricht ein innerökonomischer Konflikt auf.
Herrschaft der Oligarchen
Das heutige Finanzwesen schlachte das Industriekapital aus, zwinge der Gesellschaft Sparprogramme auf und verursache einen Beschäftigungsrückgang; sein Zwang nach Privatisierung von Monopolen treibe die Lebenshaltungskosten in die Höhe.
Michael Hudson spricht eine unmissverständlich klare Sprache. Der Transfer von staatlichen Vermögenswerten – Infrastruktur und natürliche Ressourcen – in privates Eigentum werde in hochverschuldeten Nationen durch die internationalen Finanzinstitutionen von IWF und EZB vorangetrieben. Die Finanzwelt übernehme de facto die Regierungsmacht, Demokratie werde durch eine fest etablierte Finanzoligarchie reicher Privatiers substituiert – Wall Street, London, Frankfurt: das ›Ein Prozent‹.
Destruktiver Neoliberalismus
Man mag all das kaum begreifen, wenn man vor wenigen Wochen verfolgen durfte, dass dieselben Herrschaften sich friedlich, höflich, gut gelaunt in Davos versammelten. Sanft lächelnd traten sie vor die Kameras. Im ›SPIEGEL‹ lasen wir einen rührenden Bericht über das Flüchtlingskind Yusra Mardini, dessen Auftritt den Herren in Anzug und Krawatte Tränen in die Augen trieb. Familientreffen bei Frankensteins.
Hudson verweist auf markante historische Beispiele, etwa auf das Spanien des 16. Jahrhunderts, das aufgrund seiner Vetternwirtschaft trotz des gigantischen Zustroms an Gold und Silber zu der höchstverschuldeten Nation Europas wurde, ein nun offenbar die Gegenwart bedrohendes Szenario. Neoliberale Steuer- und Finanzausrichtung sei nicht produktiv, sondern sie zersetze und zerstöre die Wirtschaft, weil sie an wertschaffenden Investitionen nicht interessiert sei.
Reiche Müßiggänger
Wir staunen. Hudson erinnert daran, dass J. W. Bennett bereits 1895 auf die weltweit agierende Klasse der Rentiers, »reiche Müßiggänger«, hinwies, die in Kürze sämtliches Vermögen auf sich vereinen können, so dass der Finanzsektor schneller reich werde als das Land als Ganzes und nicht zum Wohlstand der breiten, die Produktion bestreitenden Arbeiterschaft führe. Heutzutage tun unsere Politiker so, als wäre die Entdeckung der räuberischen Methoden des Finanzsektors etwas völlig Neues.
Hudson zeichnet detailliert nach, wie die Veränderung der Konditionen für Hypothekendarlehen, die sogenannten ›Equity loans‹, in den USA zum Kollaps des Immobiliensektors, also der Krise von 2008, führte.
Im Würgegriff des Kreditsystems
Er wirft der volkswirtschaftlichen Theorie vor, dass sie in zentralen Bereichen grundlegend falsch gewichte, indem sie etwa die leistungslosen Einkommen – Grundrenten, Mieten, Gewinne der gewerblichen Investoren und der Besitzer natürliche Ressourcen – den durch Arbeit entstehenden Profiten und Löhnen gleichstelle, und weist auf die Problematik von Finanzdienstleistungen hin, in denen keinerlei Produktion stattfinde, also keine Werte geschaffen würden.
Das objektive Ziel einer vom räuberischen Finanzsektor dirigierten Volkswirtschaft liege darin, Geld für eine sehr schmale Gesellschaftsschicht zu verdienen, indem Industrie, Arbeitsmarkt und Regierung in den Würgegriff des Kreditsystems genommen werden. Die kurzfristigen Interessen des Management-Kaste, sich mittels fremdfinanzierter Übernahmen zu bereichern, führen dazu, dass die Unternehmen wie die Realwirtschaft insgesamt ausbluten, ein Geldmanagerkapitalismus ersetze den Industriekapitalismus, der Finanzkapitalismus und die ihm verbündete Rentier-Kaste brächten die Regierungspolitik und den industriellen Kapitalismus unter ihre Herrschaft.
Vernichtende Hypothekenschulden
Für den deutschen Leser sozusagen aus dem Nähkästchen geplaudert, informiert Hudson über Karrieren und Verflechtungen zwischen Wall Street und dem Weißen Haus und diesbezügliches Personal wie Robert Rubin im Kabinett Clinton, die Finanzminister Henry Paulson und Tim Geithner unter dem Präsidenten Barack Obama, der 2008 angetreten war als Sprachrohr für die Hoffnungen der neunundneunzig Prozent, de facto aber seine Politik an den Vorgaben des einen Prozents der Hintermänner ausgerichtet habe.
Die Wall Street sei gerettet worden, nicht der einfache Bürger, der auf seinen Hypothekenzahlungen sitzenblieb, pleite war, das Home Affordable Mortgage Program (HAMP), entgegen allen öffentlichen Versprechungen eingesetzt, sei zu einem Fiasko geworden. 359 Städte und Staaten mussten mit wegbrechenden Steuereinnahmen fertigwerden, Beschäftigte verloren ihre Jobs, normale Investoren verloren ihr Geld.
Wo die Fäden zusammenlaufen
Hudson zufolge sind öffentliche Hand, produzierende Wirtschaft, Immobilieneigentümer fest in einer oligarchischen Strategie der Banken gefangen. Was sich abspiele, sei als Klassenkampf gegen die Arbeiter und die Wirtschaft insgesamt treffend beschrieben, demokratische Strukturen würden in einem Bündnis zwischen Finanzkapital, Immobiliensektor und Monopolen systematisch zerrieben.
Ausführlich widmet er sich der selbst auferlegten Sparpolitik Europas. Angesichts des katastrophalen Scheiterns des Transfers in Lettland, der Immobilienblase in Irland, der Umgestaltung des demokratischen Griechenland in eine Finanzoligarchie sei es an der Zeit, sich umzuorientieren. Er bringt eine Liste eigener Vorschläge zur Umgestaltung des Finanzsektors, sieht aber die Probleme, die Hürden, die im Wege stehen, etwa die Tatsache, dass ein Schuldenerlass, wie er im Falle Griechenlands diskutiert wurde, auch bei Zustimmung durch den IWF nur in Kraft treten könne, sofern auch das Finanzministerium der USA zustimme.
Man sieht, wo die Fäden zusammenlaufen. Hudson konstatiert eine »Unterwürfigkeit« Europas gegenüber den neoliberalen Strategen der USA, die Sozialdemokratie in ihrer gegenwärtigen Verfassung mache sich zum Handlanger des Neoliberalismus.
Titelangaben
Michael Hudson: Der Sektor. Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört
Stuttgart: Klett-Cotta 2016
670 Seiten, 26,95 Euro
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