Neuland down under

Comic | Laurent-Frédéric Bollée / Philippe Nicloux: Terra Australis

Australien, eine Zwangskolonie britischer Häftlinge: Szenarist Laurent-Frédéric Bollée und Zeichner Philippe Nicloux spüren der haarsträubenden Geschichte der Besiedelung des Kontinents nach – in Form ihres 500-seitigen Comic-Wälzers ›Terra Australis‹. Die Lektüre, eine beschwerliche Überfahrt? Keineswegs, meint CHRISTIAN NEUBERT

Terra AustralisVier Kühe, zwei Stiere, vier Stuten, zwei Hengste, 24 Schafe, 19 Ziegen, 32 Schweine, fünf Kaninchen, 87 Gockel, 122 Hennen, 35 Enten, 39 Gänse, 18 Puten. Die persönlichen Hunde des Gouverneurs und die Katzen des Reverends. Und etwa 1.500 Männer und Frauen: auf elf Schiffen. Die Kolonisierung Australiens scheint bis ins Kleinste kalkuliert. Und war dennoch ein großes politisches Schau-mer-mal.

Die britischen Besiedlungspläne Australiens stützten sich nicht auf große Visionen. Sie folgten eher einer aus der Not geborenen Pragmatik. Ende des achtzehnten Jahrhunderts erlitt das Empire Einbußen, verlor im Unabhängigkeitskrieg seine amerikanischen Kolonien. Zudem platzten zuhause, in London, die Gefängnisse aus allen Nähten. Als Lösung deportierte man seine Häftlinge, verwandelte Strafen zu einer Reise ohne Wiederkehr. Zu einem Ort, buchstäblich am anderen Ende der Welt, von dem es hieß, er sei kaum urbar zu machen. Die Wahl des Kapitäns und künftigen Gouverneurs fiel nicht zufällig auf Arthur Phillip. Er galt als Mann mit wenig Ehrgeiz, die Krone traute ihm nicht allzu viel zu. Australien hatte keine Priorität. Seine Kolonisierung erfolgte von unten.

Die Kolonisten: down under

Daher zeichnet der Comic ›Terra Australis‹ keinen Kurs von Beamten und Staatsdienern nach, sondern den von Verurteilten und von der Gesellschaft Abgehängten. Die Menschen, die am 26. Januar 1788 in Australien an Land gingen, um einen Kontinent in Besitz zu nehmen, waren Siedler ohne Wahl. Szenarist Laurent-Frédéric Bollée und Zeichner Philippe Nicloux transportieren die historischen Bezüge als lebendige Abenteuergeschichte, episch ausgebreitet auf 500 Seiten. Fünf Jahre lang haben sie dran gesessen. Ein Aufwand, der sich gelohnt hat. Bollée und Nicloux erzählen vielschichtig von der rauen Lebenswirklichkeit der Unterschicht, vom Dreck am langen Stecken der Kolonisationsgeschichte und von den weltpolitischen Geschicken des Imperialismus. Sie knüpfen spannendes, faktengespicktes Garn, der locker eine mehrmonatige Seereise unterhält und die Realität seines historischen Hintergrunds immer als melancholischen Moment zwischen den Maschen trägt.

Ihr Ziel: down under

Politische Ränkespiele, soziale Ausbeutung, Sklaverei, die raue Männerwelt auf See: ›Terra Australis‹ ordnet das vermeintlich heroische der Besiedlungsgeschichte seinem Blick aus der Tiefe unter. Und beleuchtet die zugrunde liegende Historie aus vielen Perspektiven, was auch auf grafischer Seite ideal unterhält. Die detailreichen Schwarz-Weiß-Zeichnungen bieten immer wieder schöne Panoramen, überraschende Ideen im Seitenlayout und Action an den richtigen Stellen.

Terra australis LeseprobeDie Stimme der australischen Ureinwohner, der Aborigines, wie wir heute sagen, kommt indessen nicht zum Tragen. Stellungnahme gelingt dem Comic aber auch hier. Indem er von Bennelong erzählt, einem jungen Ureinwohner, der entführt wurde, um die englische Sprache zu lernen; er sollte als Medium dienen. Als Gouverneur Phillip 1792 die frisch gegründete Siedlung Sydney verlässt und gen London aufbricht, reist Bennelong mit. Sein Englisch verbessert sich dabei täglich. Phillip jedoch lernt im Gegenzug kein Wort der ihm fremden Sprache.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben
Laurent-Frédéric Bollée, Philippe Nicloux: Terra Australis
Aus dem Französischen von Swantje Baumgart
Bielefeld: Splitter Verlag 2016
508 Seiten, 44,80 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Hauen und Stechen

Nächster Artikel

Folkdays…The Magnetic Fields

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Die zwei Gesichter von Blake und Mortimer

Comic | Y.Sente, A.Juillard: Die Abenteuer von Blake und Mortimer Band 18: Das Gelübde der fünf Lords / J.Dufaux, A.Aubin & É.Schréder: Die Abenteuer von Blake und Mortimer Band 19: Die Septimus-Welle / D.Convard, A.Juillard: Blake und Mortimer: Das letzte Kapitel Mittlerweile gibt es mehr Abenteuer von Blake und Mortimer aus der Feder anderer Zeichner und Autoren, als aus der von Edgar Pierre Jacobs. Doch wie in kaum einer anderen Comicreihe, die von unterschiedlichen Künstlern fortgeführt wurde, ist der Atem ihres Schöpfers noch auf jeder Seite zu spüren. BORIS KUNZ über die Mischung aus Nostalgie und Abenteuersehnsucht beim Lesen der

Hall of Fame des Comics?!

Comic | Internationaler Comic Salon Erlangen 2014: Geschichte des Max und Moritz-Preises Seit 1984 wird alle zwei Jahre auf dem Comic Salon in Erlangen der Max und Moritz-Preis verliehen. CHRISTOPHER FRANZ blickt zurück auf einige der Preisträger, Anekdoten und Skandale der letzten 30 Jahre und 15 oder 16 – so genau weiß man das nicht – Preisverleihungen.

Hilda im All?

Comic | Craig Thompson: Weltraumkrümel Ein abenteuerlustiges Mädchen, das keinerlei Berührungsängste mit fremdartigen Kreaturen hat, begibt sich mutig und unerschrocken auf eine Mission durch den Weltraum um ihren verschollenen Vater zu suchen. Begleitet wird sie von einem intellektuellen Hühnchen und einem aufbrausenden Lumpkin: ein ungleiches Trio aus Außenseitern, denen es durch ihren Zusammenhalt gelingt, aussichtslose Situationen zu meistern. ›Weltraumkrümel‹ ist das neue Werk des gefeierten Comiczeichners Craig Thompson und verspricht einen originellen Abenteuerspaß für die ganze Familie. BORIS KUNZ hat bei der Lektüre festgestellt, dass Thompson seinen Comic allerdings auch mit schwereren Themen reich bestücktv hat.

Hey love, let´s go!

Comic | Petteri Tikkanen: Blitzkrieg der Liebe Eine geradlinige Coming-Of-Age-Story in reduzierter, ausdrucksstarker Optik: Petteri Tikkanen zeichnet in ›Blitzkrieg der Liebe‹ den Weg seines pubertierenden Helden nach – melancholisch, klar, vor allem aber rasant. Von CHRISTIAN NEUBERT

Irgendwo in Europa

Comic | Internationaler Comic Salon Erlangen 2014: Auf der Suche nach dem deutschen Genrecomic, Teil 1 ›Gung Ho‹ war das »Flaggschiff« des ›Cross Cult‹-Verlags auf dem diesjährigen Comicsalon – und das absolut zu Recht, darf man das Album doch ohne Übertreibung als die spannendste und gelungenste deutsche Genrepublikation der letzten Zeit bezeichnen. Der erste Band ist 80 Seiten stark und erscheint gleichzeitig auch als lohnenswerte limitierte Vorzugsausgabe mit ausführlichem Bonusmaterial. Von BORIS KUNZ