/

Offen sein für Erschöpfung

Menschen | Zum 85. Geburtstag des Schriftstellers Günter Herburger am 6. April

»Man offen sein muss für Erschöpfung. Ich bin in diese Erschöpfung hineingelaufen, es kam der zweite Wind, und ich dachte: Was ist das?«, erklärte der Schriftsteller Günter Herburger einst seine ersten Leidenserfahrungen beim Marathonlauf. Von PETER MOHR

Günther Herburger
Günther Herburger
Foto: Catherina Hess
Extreme stehen bei Herburger ganz hoch im Kurs – literarisch, politisch und eben auch in der Freizeit. In den wilden 1960er Jahren schloss er sich der DKP an, 15 Jahre arbeitete er an seiner Thuja-Mammuttrilogie, und eines seiner prägenden Erlebnisse war die Teilnahme am 235 km langen Ultra-Marathonlauf von Athen nach Sparta.

Nach eigenem Bekunden hat er nur einmal in Berlin die »klassische Strecke« auf Zeit gelaufen, um seinem Sohn zu imponieren: »Der will doch den tollen Papa sehen, da habe ich alle vor mir aufgerollt und hetzte den Kudamm hinauf… Es hat nichts genützt. Geschämt hat er sich, weil ich so erschöpft war im Ziel. Ich schwitzte und fror und hab mich auf dem Kudamm nackt ausgezogen, was einem ja wurscht ist, wenn man völlig von Sinnen ist.«

Günter Herburger, der heute* vor 85 Jahren in Isny im Allgäu als Sohn eines Tierarztes geboren wurde, ist ein Mann, der die Herausforderungen förmlich sucht, der literarisch wie körperlich als unermüdlicher Grenzerforscher tätig ist. Die Affinität zum Außergewöhnlichen zeigte sich schon in den 1950er Jahren, als er in Paris Sanskrit studierte. Seit einem kurzen Zwischenspiel Anfang der 1960er Jahre als Fernsehredakteur für Kindersendungen in Stuttgart arbeitet er als freier Schriftsteller.

Doch ganz ohne Folgen blieb das TV-Intermezzo nicht, denn Herburger, der viele Jahre in München lebte und nun seit einiger Zeit Berlin ansässig ist, trat später noch wiederholt als Autor der »Birne«-Kinderbücher in Erscheinung. Seine ersten künstlerischen Meriten erwarb er als Hörspielautor, es folgte ein kurzes Gastspiel als Filmemacher, ehe sich Herburger in den 1970er Jahren ganz der Erzählliteratur zuwandte und sich als Vorreiter der postmodernen Literatur entpuppte. Ein erstes Beispiel dafür lieferte die von Bernhard Wicki verfilmte Erzählung ›Die Eroberung der Zitadelle‹ (1972).

Eines der gelungensten Bücher ist noch heute die 1984 erschienene Erzählung ›Capri‹, in der die Phantasie und Technik eines Diebes der Arbeitsweise eines Schriftstellers gegenübergestellt wird.

Für Freunde bekenntnishaft-selbstzerfleischender Literatur sind Herburgers stark autobiografisch gefärbte Marathon-Bücher ›Lauf und Wahn‹ (1988), ›Traum und Bahn‹ (1995) und ›Schlaf und Strecke‹ (2005) Pflichtlektüre. Zuletzt hat Herburger vor einem Jahr den skurril-märchenhaften Heimatroman ›Wildnis, singend‹ vorgelegt, in dem es von sprechenden Tieren wimmelt.

Seit mehr als 50 Jahren hat Herburger darüber hinaus dem Gedicht die Treue gehalten. Seit dem Band ›Ventile‹ (1966) hat er sich kontinuierlich auch mit Lyrikbänden zu Wort gemeldet – zuletzt vor sieben Jahren mit ›Ein Loch in der Landschaft‹. Im Vorwort zu seinem Gedichtband ›Orchidee‹ (1977) hat er seinen Lesern geraten, »Gedichte wie Luftschiffe zu benützen, denn wer nicht zu fliegen wage, verzichte auf Übersicht und Mut«.

Zwischen Luftschiffen und Marathonläufen hat sich Günter Herburger in unserer schnelllebigen Zeit eine gehörige Portion Individualität bewahrt.

| PETER MOHR
| Titelbild: Catherina Hess / A1-Verlag

Lesetipp
Günter Herburger: Wildnis, singend
Berlin: Hanani Verlag 2016
250 Seiten, 19,50 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Cyber-Alptraum oder nahe Zukunft?

Nächster Artikel

Das Elbe vom Ei

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Korn zwischen den Mühlsteinen

Menschen | Zum 100. Geburtstag von Alexander Solschenizyn Vor 100 Jahren am (11. Dezember) wurde Literatur-Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn geboren. Ein Porträt von PETER MOHR

China zeigt sein wahres Gesicht

Menschen | Liao Yiwu: Die Kugel und das Opium Der Dissident und Lyriker Liao Yiwu klagt die chinesische Regierung an: Selbst der Tod sei verlockender als ein Leben unter der repressiven Folter der KPC. Die erbrachten Opfer der Studentenbewegung im Jahr 1989, insbesondere des Massakers am Platz des Himmlischen Friedens dürften nicht in Vergessenheit geraten. Als Beweislage bringt Yiwu Die Kugel und das Opium hervor, in denen Augenzeugen und Beteiligte der Demonstrationen über ihre anschließenden Qualen berichten. Ein erschreckendes Gesellschaftsbild der Volksrepublik gerät ans Tageslicht. Von MARC STROTMANN

»Kafka war nie ein Käfer«

Menschen | Interview mit Urs Widmer

Der 1938 in Basel geborene und 2014 gestorbene Urs Widmer gehörte sicherlich mit gutem Recht zu den bekanntesten Stimmen in der deutschen Literatur. Eigentlich fehlte dem bis zuletzt in Zürich lebenden Erzähler und Dramatiker nur noch der Büchner-Preis. Zuletzt hatte er vor allem durch die Veröffentlichung der Zwillingsromane ›Der Geliebte der Mutter‹ und ›Das Buch des Vaters‹ für Aufsehen gesorgt. Widmer, der Germanistik, Romanistik und Geschichte studiert hatte und lange Jahre in Frankfurt lebte, erläutert in unserem wiederveröffentlichten Interview mit THOMAS COMBRINK unter anderem, wie er zu seinem eigenen, ganz unverwechselbaren Ton gekommen war und wie viel Lebenserfahrung ein Schriftsteller für das Schreiben benötigt.

Fluxus als Haltung

Interview | Der Fluxus-Pionier Ben Patterson über Fluxus als Haltung, die schwarze Bürgerrechtsbewegung und ein Versprechen an Mount Fuji Vor 50 Jahren kratzten Unbekannte »Die Irren sind los« in das Werbeplakat. Im Hörsaal des städtischen Museums Wiesbaden fanden damals im Rahmen der Fluxus-Festspiele Neuester Musik vom 1.-23.September 1962 die weltweit ersten Fluxus-Performances statt. Das Fernsehen sendete die Ereignisse und die subversive Strahlkraft dieses Fluxus-Urknalls verbreitet seitdem ihr Unwesen. Von SABINE MATTHES

Gedichte von der Kanzel

Menschen | Zum Tode des Schriftstellers Kurt Marti »Bei mir war das Schreiben eine Art Ausbruch aus der präformierten Sprache der Kirche und der Theologie«, bekannte der Schweizer Kurt Marti in einem Interview. Wie vor über 100 Jahren sein berühmter Landsmann Albert Bitzius, der unter dem Namen Jeremias Gotthelf in die Literaturgeschichte eingegangen ist, hat auch Marti über viele Jahrzehnte hinweg zwei Professionen ausgeübt: Pfarrer und Dichter. PETER MOHR zum Tode des Schriftstellers Kurt Marti.