»Ich habe eine Partitur, nach der ich lebe, jedenfalls wenn ich schreibe: Wenn man vor der Wand steht, wenn es nicht weiter geht, muss es irgendwo anders weitergehen«, hatte Alexander Kluge schon 2003 in seinem Band ›Die Lücke, die der Teufel lässt‹ erklärt. Dieser Satz beschreibt äußerst treffend Kluges Energie, seine Umtriebigkeit, seinen eisernen Willen, neue Wege zu erforschen, neue Zusammenhänge zu ergründen – alles abseits des intellektuellen und künstlerischen Mainstreams. Von PETER MOHR
Neugier und Wissensdurst hat sich Kluge bis heute erhalten, wie seine beiden kürzlich erschienenen Bände unter Beweis stellen. In beiden Büchern bewegt sich der Autor ganz nah an der Aktualität, denn Corona und der Einfluss der Pandemie auf unser Leben spielen eine zentrale Rolle. Bereits im Frühjahr 2020 hat er Gespräche mit der viele Jahre an der Uni Zürich tätigen Virologin Karin Mölling geführt und legt uns nun eine Essenz daraus vor. Von der Gefährlichkeit der unterschätzten »Viren-Intelligenz« ist die Rede. Daneben stehen dann aber auch humorvolle erzählerische Petitessen, so als er über ein »Erlebnis« mit seinem Hund zu Weihnachten berichtet: »Ein Brocken Rindfleisch, und er wäre mit Jesus versöhnt.«
Ein wiederkehrendes Motiv in den Bänden sind Zirkuserlebnisse, die er aus seiner Kindheit erinnert und nun mit intellektuellem Scharfsinn und dichterischer Fantasie neu auf die Beine stellt. Da reichen dann die assoziativen Loopings bis zur Französischen Revolution, zu Sigmund Freud, Habermas und Adorno und zu den Malern Gerhard Richter und Sigmar Polke.
Im umfangreicheren ›Buch der Kommentare‹ befasst sich Kluge auch ausführlich mit der Präsidentschaft von Donald Trump und dem blutigen Ende im Januar 2021. Alexander Kluges Selbstironie, sein kaum zu bändigender Bildungshunger, aber auch seine spielerische, kindliche Leichtigkeit, die er sich bis ins hohe Alter bewahrt hat, haben ihn zu einem absoluten Solitär in der Intellektuellenszene des letzten Jahrhunderts werden lassen.
Die Umtriebigkeit des intellektuellen Multi-Talents Alexander Kluge ist bewundernswert. Als Schriftsteller, Filmregisseur, Filmtheoretiker, Leiter der Produktionsfirma ›Kairos-Film‹ und Mitgründer der ›DCTP‹, scharfsinniger Essayist, Dozent an der Filmhochschule, Kulturtheoretiker, TV-Moderator und Fernsehproduzent sammelte der promovierte Jurist und Adorno-Schüler Meriten. Dabei schwamm er nie auf den Wogen des Zeitgeistes mit, sondern ruderte bisweilen auch kraftvoll gegen den Strom und gab viele neue kulturelle Impulse.
Alexander Kluge, der am 14. Februar 1932 in Halberstadt als Sohn eines Arztes geboren wurde, setzte nach seinem Jurastudium als Schriftsteller in den 60er Jahren noch vor Peter Weiss und Heinar Kipphardt ganz auf die dokumentarische Collage (›Lebensläufe‹, 1962). Als Regisseur, der einst bei Fritz Lang volontiert hatte, revolutionierte er den deutschen Film und gilt zusammen mit Edgar Reitz und Peter Schamoni als Wegbereiter des Autorenfilms. Und Ende der 80er Jahre, als von vielen Kulturpessimisten der Untergang der Fernsehkultur durch das Privatfernsehen vorausgesagt wurde, produzierte Kluge für diverse kommerzielle Sender anspruchsvolle Kulturmagazine (›10 vor 11‹, ›MitternachtsMagazin‹, ›Primetime‹), die er sich gut honorieren, aber nicht zensieren ließ.
»Ich bin anti-belletristisch. Ich glaube nicht an Hochkunst. Sondern an eine relativ triviale Art des Erzählens«, erklärte Alexander Kluge 2007 in einem Interview mit der ›Neuen Zürcher Zeitung‹. Das klingt stark nach Understatement, denn der Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 2003 erzählt alles andere als »trivial«. Seine assoziative Prosa, seine Sammlungen bisweilen aphoristisch zugespitzter Gedankensplitter kommen wie ein freischwebendes, gigantisches, reflektierendes Oeuvre daher. Literarische und methodische Parallelen sind im deutschen Sprachraum selten, allenfalls beim 2001 tödlich verunglückten WG Sebald zu konstatieren. Kaum zu glauben, dass der große Experimentierer und Dokumentarist Kluge in jungen Jahren Thomas Mann verehrt hatte. Er schrieb einst über seinen Besuch Anfang der 1950er Jahre in Kilchberg: »Ich wagte nicht, an der Haustür zu klingeln. Was hätte ich als Grund meines Besuchs vorbringen sollen?«
Kluge liefert weder festgefügte Weltbilder noch griffige Storys, sondern versucht, Erfahrungen zu vermitteln (»Eigentlich brauchen wir einen Atlas unserer Erfahrung.«) und aus einem assoziativen Bildermeer und dokumentierten Fakten Zusammenhänge zu konstruieren.
»Wir leben nicht in einer Gegenwart. Wir leben gleichzeitig in einer Vergangenheit, einer Zukunft und in der Möglichkeitsform, in einem Konjunktiv«, schrieb er 2006 in seinem Band ›Tür an Tür mit einem anderen Leben‹. Umtriebig, fast ruhelos ist der seit vielen Jahren in München lebende Kluge immer noch als Horizonterweiterer in eigener Sache aktiv.
| PETER MOHR
| FOTO: Lorenz Seidler (eSeL), Belvedere 21: Alexander Kluge: Pluriversum. (CC BY-NC-SA 2.0) (Crop)
Titelangaben
Alexander Kluge: Das Buch der Kommentare
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022
387 Seiten, 32 Euro
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Alexander Kluge: Zirkuskommentar
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022
167 Seiten, 28 Euro
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