Es ist über 30 Jahre her, seit meine Tochter – damals im zarten Alter von drei oder vier Jahren – sich vor Trotz und Wut in einem Supermarkt auf den Boden warf, filmreif. Natürlich dort, wo gemeinerweise alle Süßigkeiten liegen, gemeinerweise an der Stelle, die für Mütter und Väter zur Bewährungsprobe wird: an der Kasse. Geduld lernt man und der »Anfall« war eine Minute später auch überstanden und mittlerweile greift meine Tochter zu anderen Strategien. Wut und Gefühle überhaupt zu kennen, zu beherrschen und mit ihnen umgehen zu können, dazu hier ein wunderbar unterhaltsames und gefühlvolles Buch gleichermaßen, das Eltern mit ihren Kindern gemeinsam lesen und bereden sollten, empfiehlt BARBARA WEGMANN.
Na, diese Feuerkröte ist ja vielleicht ein Früchtchen: Dem Igel reißt sie Stacheln aus, der Schnecke verdreht sie die Fühler, dem Elefanten macht sie einen »unlösbaren Knoten in den Rüssel«, dem Frosch verklebt sie das Maul, der Heuschrecke zerfetzt sie den Mantel. Die Tiere reagieren wie vermutet und sehr naheliegend: Sie sind sauer, böse, wütend, völlig perplex und ohne jedes Verständnis. Aber der Feuerkröte reicht das nicht: »Wird denn hier keiner wütend?« prustet sie los und wirft den Tieren vor, sie könnten ja gar nicht richtig wütend werden. Die setzen sich abends im Wald ganz »geknickt« zusammen und überdachten den Tag. »Keiner wusste, was richtig wütend war. Vielleicht war es ja etwas anderes. Etwas, was gar nicht aussah wie Wut? Vielleicht sah es ja so aus wie Fröhlichsein?« Ja, was ist das eigentlich, und was macht es mit uns, dieses Wütendwerden?
Für Toon Tellegen und Marc Boutavant ist es thematisch ein weiteres Buch nach »Man wird doch wohl mal wütend werden dürfen«. Tellegen, der viele Preise erhielt, der eigentlich studierter Mediziner und mittlerweile in Holland einer der bekanntesten Schriftsteller ist, er hat ein Händchen für die Gefühle und Befindlichkeiten der kleinen »Wutköpfe«. Und mit dem im französischen Dijon lebenden Marc Boutavant war der absolut passende Illustrator gefunden. Herzzerreißend, aber auch irgendwie urkomisch die Geschichte der Grille, die vor ihrem nahenden Geburtstagsfest dem Bären einen Brief schreibt. Sie wolle nicht, dass er zu ihrer Party komme, weil er so schlingt, immer kleckert, einem beim Tanzen auf die Zehen tritt, falsch und laut sänge, der alle wegschubse, um zuerst beim Kuchen zu sein und einschlafe, wenn jemand eine Rede halte. Na, wenn das nicht deutlich ist.
Zum Schluss des Briefes aber lädt sie ihn dennoch ein: »Ach, weißt du was? Komm ruhig. Eigentlich ist es doch sehr schön, wenn du kommst.« Hinreißend die illustrierte Szene dazu, die Grille, klein in ihrem großzügigen Zuhause, das schon dekoriert ist für den Festtag, da sitzt sie allein und schreibt. Klar kann man sie verstehen, sie gibt ihre Beobachtungen und Erfahrungen wieder, aber sagt man es so einem anderen? Genauso eigenwillig wie die Grille, die Feuerkröte, Schnecke und Elefant, spielen Ameise, Schildkröte, Schlange, ein Pillendreher und ein Schwan auf dieser farbigen und wunderschön gestalteten Bühne mit, auf der es emotional hoch her geht: Wütend, ärgerlich, enttäuscht, ängstlich, trotzig, dickköpfig, verletzt: all das sind Gefühle, die jeder und jede einmal hat, die oft wehtun können. Man muss lernen damit umzugehen.
Was um alles in der Welt macht man mit Gästen, die sich komplett daneben benehmen? Der Schwan hat alle eingeladen, viele Tiere sitzen um den Tisch verteilt, da springt der Frosch »mit den Händen voran in die Geburtstagstorte«. »Was für ein Köpfer! Habt ihr das gesehen?« ruft er in die Runde und erwartet auch noch Applaus. Die Gästeschar ist wie erstarrt, große Augen, vorsichtshalber erst einmal nicht lachen, dem Schwan ist nach Lachen sowieso nicht zumute. Er verlässt seine eigene Geburtstagsfeier. Irgendwann später schreibt er dem Frosch, er wolle ihm vergeben. Ein Brief, mit dem der Frosch nichts anfangen kann.
Empathie, das Gefühl für die Verletzlichkeiten und die Gedanken anderer, auch das will gelernt sein, Freunde nicht zu verletzen, sie zu verstehen, einen Streit zu schlichten, den anderen das Gefühl geben, dass sie auch etwas wert sind, gleichzeitig aber auch ehrlich sein zu dürfen, so viele Aspekte haben die Geschichten, die irgendwie alle zusammenhängen. Oft sind es die falschen Worte oder die nicht ausgesprochenen, die nicht richtig verstandenen Worte, die all diese putzigen Tiere in emotional aufgeladene Situationen bringen. Und manchmal glaubt man sogar seinen eigenen Worten mehr, als alle Tatsachen rund um einen herum für sich sprechen können: So wie in der Geschichte der Gottesanbeterin, die Mäntel verkauft. Aber: wer will schon Mäntel im Sommer? Sie aber glaubt so fest an Kälte, Eis und Schnee, dass ihr kalt wird, sie friert und sich unter all ihren Mänteln einsam versteckt.
Es sind kleine fabelähnliche Geschichten, über die man viel, lange und sicher sehr angeregt sprechen kann, da haben Erwachsene und Kinder bestimmt gleichermaßen eigene Erfahrungen und Begebenheiten aus dem Kindergarten oder der Schule beizusteuern, vielleicht eben auch aus Erinnerungen an früher. Das Buch ist eine hervorragende Anregung dazu. Und es zeigt, dass alles auch gut ausgehen kann, denn am schönsten ist es ja letztlich doch, sich zu vertragen und »zum Fluss zu gehen und dort mit geschlossenen Augen dem Plätschern der Wellen zu lauschen.«
Titelangaben
Toon Tellegen: Wird denn hier keiner wütend?
(Is er dan niemand boos?, 2013), übersetzt von Bettina Bach
Mit Illustrationen von Marc Boutavant
München: Hanser 2021
72 Seiten, 16 Euro
Kinderbuch ab 6 Jahren
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