Kinderbuch | Christine Nöstlinger: Jeden Morgen um 10
Jeden Tag nimmt ein Hund die Fähre von La Maddalena nach Palau. Ganz alleine. Jeden Morgen um 10. Und jeden Abend fährt er zurück nach Maddalena. Ein Rätsel, das die Leute beschäftigt. Was sucht er dort? ANDREA WANNER war ebenfalls neugierig.
Der Hund heißt Max, hat ein sandfarbenes Fell, dazu eine bunte Mähne und einen ebenso bunten Schwanz und sieht sehr freundlich aus. Auf der Fähre lässt er sich den Wind um die Hundenase wehen, dann geht er an Land, läuft ein bisschen durch die Straßen und legt sich schließlich in den Schatten. Und am Abend kehrt er auf das Boot zurück.
Ganz klar weckt so ein Verhalten das Interesse der Bewohner von Palau, einer idyllischen kleinen Stadt an der Costa Smeralda in Sardinien. Sie sehen ihn, beobachten ihn und machen sich so ihre Gedanken. In der Bar am Kirchplatz sitzen Campari trinkend die Schneiderin, der Pfarrer, die Gemüsefrau, der Bäcker, die Wirtin und der Baumeister, sechs Personen, die das Geheimnis von Max lüften wollen. Und sich machen sich an die Arbeit.
Den Anfang macht an einem Montag die Schneiderin. Sie erfährt von Max, dass er auf seinen Vater wartet, der die Familie verlassen hat, als Max noch ganz klein, aber sein Wiederkommen in dem roten Ballon, mit dem er auch nach Spanien davongeflogen ist, versprochen hat. Und weil Sardinien näher an Spanien liegt als La Maddalena, wartet der Hund dort, um den Ballon möglichst früh zu entdecken.
Bereits am Dienstag weiß der Pfarrer zu berichten, dass Max die Schneiderin belogen hat und stattdessen ihm die richtige Geschichte anvertraut hat. Der zufolge ist Max auf der Flucht vor einer Katze, die sich in ihn verliebt hat und den ganzen Tag unerträglich maunzend vor seinem Haus lauert.
Täglich versucht er, ihr zu entkommen. Aber stimmt das wirklich? Die Gemüsefrau, der Bäcker, die Wirtin und der Baumeister bekommen ganz andere Antworten auf die Frage, was der Hund denn nun tatsächlich in Palau macht. Welche Geschichte stimmt?
Dazu muss man Geduld haben bis Sonntag. Da führt Gina, die Tochter der Wirtin, ein Gespräch mit Max. Zum ersten Mal kommt der Held selbst zu Wort. Und natürlich gibt es an diesem Tag eine siebte Variante. Gut, niemand muss einem Tier glauben, dass schon sechsmal zuvor eine Story aufgetischt hat. Aber es spricht vieles dafür, dass diese letzte Variante tatsächlich die richtige ist, weil es die ist, die das Geschichtenerzählen selbst zum Thema macht.
Christine Nöstlinger, die Buchstabenfabrikantin, wie Ursula Pirker sie 2007 in einem Aufsatz genannt hat, ist im Oktober 80 geworden. Sie ist eine großartige Geschichtenausdenkerin, die bereits 1973 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis für ›Wir pfeifen auf den Gurkenkönig‹ ausgezeichnet wurde und weiß, dass Fantasie und genaues Beobachten die wichtigsten Zutaten für eine gute Geschichte sind. Und Max, der Held in ihrem neuesten Bilderbuch, scheint das auch zu wissen. Wen interessiert da schon die »wirkliche Wahrheit«? Also sind Geschichten eigentlich Lügen? Das fragt Gina fast ein bisschen empört. Aber auch auf so etwas kann Max reagieren: »Geschichten sind keine Lügen!«, rechtfertigt er sich. »Lügen richten Schaden an. Geschichten machen Freude.«
So erfindet er munter seine kleinen Abenteuer, eingebettet in eine bunte Landschaft aus fröhlichen Farben und Formen, in der sich Realität und Fantasie genauso kreativ mischen wie im Text. Der Alltag der Bewohner wird mit unzähligen kleinen Figuren und üppigen Pflanzen ergänzt. Gitarre spielende Frösche, Eis schleckende Matrosen, Unterhosen und Socken auf der Wäscheleine, daneben eine Katze … ein kunterbuntes Sammelsurium, das nicht nach den Kriterien richtig oder falsch, möglich oder unmöglich sortiert werden muss, sondern das einfach, wie die Geschichte, schlicht Freude macht. Was will man mehr?
Titelangaben
Christine Nöstlinger: Jeden Morgen um 10
Mit Illustrationen von Katharina Sieg
Wien: Nilpferd 2016
32 Seiten, 14,99 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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