Last in Proviant verwandeln

Roman | Ulla Hahn: Wir werden erwartet

Es ist vollendet. Die inzwischen 72-jährige Schriftstellerin Ulla Hahn hat ihren großen, 2500-seitigen autobiografischen Zyklus mit dem nun vorliegenden, opulenten Roman ›Wir werden erwartet‹ abgeschlossen und ihren beschwerlichen Weg von der Nachkriegskindheit in der rheinischen Kleinstadt bis hin in die hochpolitischen 1970er Jahre nachgezeichnet, in denen die Wurzeln ihrer schriftstellerischen Laufbahn liegen. Von PETER MOHR

Ulla Hahn Wir werden erwartet»Erst vor dem Hintergrund des Erfundenen konnte ich aussprechen, was mir damals widerfahren ist«, hatte Ulla Hahn 2001 nach der Veröffentlichung ihres ersten Hilla Palm-Romans ›Das verborgene Wort‹ erklärt. Durch den zeitlichen Abstand, durch gezielte fiktive Einschübe und nicht zuletzt durch das Medium Sprache hat sich Ulla Hahn selbst befreiend an der eigenen Biografie abgearbeitet.

Mit dem vierten Roman knüpft die einst von Marcel Reich-Ranicki als Lyrikerin geförderte Autorin nahtlos an die umfangreichen Vorgängerwerke an, den 500.000mal verkauften und später unter dem Titel ›Teufelsbraten‹ verfilmten Roman ›Das verborgene Wort‹, ›Aufbruch‹ (2009) und ›Spiel der Zeit‹ (2014).

Zu Beginn der Handlung befindet sich Ulla Hahns Erzähl-Ego Hilla Palm als Studentin in einer harmonischen Beziehung zu Hugo, Sohn einer schwerreichen Familie aus dem Kölner Nobelvorort Marienburg. Sowohl die Beziehung zu Hugo als auch das Verlassen der dörflich-katholischen Enge der Kleinstadt Dondorf (Ulla Hahn ist in Monheim aufgewachsen – zwischen Düsseldorf und Leverkusen gelegen) wirkt befreiend für die Protagonistin. Die Zeit des Studiums ist für Hilla wie eine doppelte Grenzüberschreitung. Intellektuell wächst sie über das Arbeitermilieu ihrer Eltern (das Streben »jet Besseres« zu werden treibt sie an) hinaus, und sie tauscht den miefigen Mikrokosmos Dondorfs gegen die schrille, beinahe weltstädtische Metropole Köln.

Ulla Hahn erzählt mit spürbarem Vergnügen aus dieser politisch »schrägen« Zeit. »Angeturned« von dem einen oder anderen Joint wird alles noch einmal durchdekliniert, was zum geistigen Kanon der 68er-Generation gehörte – von der studentischen Bigamie, über die antiautoritäre Erziehung bis hin zur Befreiung der Arbeiterklasse und den weltumspannenden Kampf gegen den Kapitalismus. Che Guevara, Mahatma Gandhi, die Mao-Bibel, das Kommunistische Manifest, Jimi Hendrix und Frank Zappa bringen die Köpfe der Beteiligten zum Überkochen.

Anders als in den Vorgängerwerken lässt es Ulla Hahn dann durch eine inhaltliche Zäsur sehr privat werden. Hillas Geliebter Hugo stirbt bei einem Autounfall (mit Fahrerflucht), und die Protagonistin verfällt fortan in tiefe Verzweiflung. Ulla Hahn lässt den Leser in geradezu intimer Nähe daran teilhaben und mitleiden.

Ein kluger katholischer Geistlicher steht Hilla bei, hilft ihr aus der unendlichen Verzweiflung heraus und führt sie über die »Schwelle« der Dauer-Trauer hinweg zurück ins »normale« Leben.

Dass sie diese Rückkehr geradewegs in die Arme der DKP führte, dass sie fortan die Welt verbessern und ihren Vater und seine Leidensgenossen (die Arbeiterklasse) vom Joch des, ach so verteufelten Kapitalismus befreien wollte, gehört zu den biografischen Wirrungen auf Ulla Hahns Lebensweg, der sie dann nach Hamburg führte, wo im Stadtteil Eppendorf (im Dunstkreis des Ernst-Thälmann-Denkmals) die politische Linke der damaligen Zeit besonders aktiv war. Hilla (Ulla) reist in die DDR, kehrt desillusioniert über den Alltag im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat zurück und wendet sich – frustriert von den bornierten Grabenkämpfen – von der radikalen politischen Linken ab.

»Seine Herkunft trägt man immer in sich. Das muss einem aber nicht zeitlebens als Bürde erscheinen. Es kommt darauf an, eine Last in Proviant zu verwandeln«, hatte Ulla Hahn nach der Veröffentlichung des Vorgängerwerks ›Spiel der Zeit‹ erklärt.

Aus dem ihr aufgebürdeten biografischen Rucksack hat die Autorin Kraft gewonnen für ihren späteren Lebensweg und wohl auch die notwendige Energie geschöpft für ein solch umfangreiches und kräftezehrendes Romanprojekt.

Ja, dieses gigantische Buch enthält ungewöhnlich viele narrative Längen, so endlos aus- und abschweifend wie die Diskussionen in den beschriebenen K-Gruppen. Und vermutlich werden jüngere Leser mit Hilla Palms Lebensweg, mit ihrer politischen Sozialisation, mit ihrem bisweilen naiven missionarischen Weltverbesserungseifer ihre Probleme haben.

Das große Plus dieses Buches ist die plaudernd-unterhaltsame Sprache, diese Mischung aus rheinischer Redseligkeit (man sagt den Rheinländern nach, dass sie das »Hätz op de Zong« haben, hochdeutsch: »Das Herz auf der Zunge«) und poetischer Bildhaftigkeit.

Ulla Hahn hat uns die vermutlich umfangreichste Autobiografie unserer Zeit vorgelegt. Nicht nur ein Stück erzählte Zeitgeschichte, sondern auch ein umfangreiches Aufsteigerepos mit all seinen Irrungen und Wirrungen und dazu eine kritische und mutige Abrechnung mit der eigenen Familie, die bisweilen schmerzhaft bis zur Selbstentblößung ging. Gigantisch, mutig und absolut einzigartig in unserer Zeit.

| PETER MOHR

Titelangaben
Ulla Hahn: Wir werden erwartet
München: Deutsche Verlags-Anstalt 2017
630 Seiten. 28,80 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| mehr zu Ulla Hahn in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Bis zum Abwinken

Nächster Artikel

Ein Kleeblatt bringt nicht immer Glück

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Wie Hähnchen-Amok

Roman | Dorian Steinhoff: Das Licht der Flammen auf unseren Gesichtern »Kaffirlimonenblätter, Turmericwurzeln, Galgant, Koriander, Minze, süßes Thai-Basilikum und Zitronengras.« – Dorian Steinhoffs sieben Erzählungen seines gerade erschienenen Erzählbandes stellen eine ebenso bunte Gewürzmischung vor wie die des kambodschanischen Gerichtes namens Hähnchen-Amok, das in »Wasser«, der zweiten der sieben Geschichten, in einer Kokosschale serviert wird. Von VERENA MEIS

Auf Marcel Prousts Spur

Roman | Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen Bis zur Lektüre von ›Der Hase mir den Bernsteinaugen‹ habe ich nicht gewusst, was Netsuke sind. Musste man ja auch nicht. Aber jetzt weiß ich, dass es sich dabei um das ästhetische »Fingerfood« kleiner japanischer Holz- & Elfenbeinschnitzereien handelt & dass der Londoner Keramikprofessor (auch ein akademischer Grad, von dem ich bislang noch nie etwas gehört hatte) Edmund de Waal 264 Stück Netsuke besitzt, deren Lebensweg er in seinem grandiosen Buch (dem kein zweites dieser Art »aus seiner Feder« folgen dürfte) beschreibt. Der Titel gebende ›Hase mit den Bernsteinaugen‹ ist

Eine Liebe am Wattenmeer im Zeichen des Klimawandels

Roman | Kristin Höller: Leute von früher

»Als sie Strand zum ersten Mal betrat, zwickte ihr Unterleib, und sie spürte, dass sie zu bluten begann. Sie hatte keine starken Schmerzen, bemerkte kaum Stimmungsschwankungen, ab und zu vergaß sie sogar, dass sie einen Zyklus hatte. Ihr Körper funktionierte und war unauffällig, aber so hatte sie nie gelernt, in sich hineinzuhorchen.« In ihrem zweiten Roman schickt die Autorin ihre Protagonistin Marlene als Saisonkraft in das Erlebnisdorf »Strand« auf eine der Restinseln der längst untergegangenen gleichnamigen Nordseeinsel, die mitsamt dem dort gelegenen berühmten Handelsort Rungholt einst vom Meer überflutet wurde, bei der verheerenden Sturmflut im Jahre 1362. Von Rungholt erzählt auch Barbara, eine ältere Arbeitskollegin Marlenes, und das Magische und Gruselige durchzieht den ganze Roman Höllers. Von DIETER KALTWASSER

Eine Herausforderung für Sebastian Bergman

Roman | Hjorth & Rosenfeldt: Die Schuld, die man trägt

Sebastian Bergman, Psychologe und, wann immer es brenzlig wird, Unterstützer von Schwedens Reichsmordkommission, hat in seinem Leben schon viel kaputt gemacht: Ehen, Freundschaften sowie berufliche Beziehungen aller Art gehörten dazu. Manches davon ließ sich kitten, anderes nicht. Schuldig hat sich Sebastian dabei aber nur in den wenigsten Fällen gefühlt – zu groß sein Ego, zu wenig empathisch ausgerichtet seine Gefühlswelt. Das sieht der Killer, auf dessen Spuren sich die Reichsmordkommission in Die Schuld, die man trägt, dem achten Sebastian-Bergman-Roman des Autorengespanns Hjorth & Rosenfeldt, begibt, allerdings anders. Und fordert den Psychologen zu einem intellektuellen Wettstreit heraus, in dem er als Opfer Menschen auswählt, denen Sebastian in seiner Vergangenheit Unrecht getan hat. Von DIETMAR JACOBSEN

Auf der dunklen Seite des Mondes

Roman | Michael Chabon: Moonglow Er ist überbordend vor purer Fabulierfreude, kuriosen Details und abwegigen Erzählsträngen – und kommt doch als Familiengeschichte oder gar Autobiographie daher: ›Moonglow‹, der neueste Roman des Pulitzerpreisträgers Michael Chabon. Doch Vorsicht, dieses Werk ist leicht entflammbar! Von INGEBORG JAISER