/

Let’s do the Time Warp again!

Live | Bühne | Musical:Rocky Horror Show

Es gibt wohl kein Musical auf dieser Welt, was lustvoller und mitreißender wäre, als die von Richard O’Brien geschaffene ›Rocky Horror Show‹. Sein abgedrehter Hauptcharakter Frank N. Furter ist seit der Uraufführung 1973 nahezu unsterblich, auch wenn seine Haarfarbe je nach Inszenierung wechselt. Wie schafft es die Kultshow, über Jahrzehnte attraktiv zu bleiben? Denn die eigentliche Hauptaufgabe – das Spießbürgertum sexuell schockrocken – dürfte ja in der heutigen Zeit nicht mehr nötig sein. Oder? ANNA NOAH ist auf Spurensuche.

Glamour, Sex und Rock’n’Roll

Kein anderes Musical der Theatergeschichte wird so euphorisch vom Publikum gefeiert und miterlebt, wie die »Rocky Horror Show«. Dasselbe kann man über die 1975 erfolgte Verfilmung sagen. Wenn das etwas biedere Paar Brad Majors und Janet Weiss die Bühne betritt, ist der Bann gebrochen. Natürlich finden sie das Anwesen der Außerirdischen – und was dort los ist spottet jeder Beschreibung: jede Menge Sex, Männer in aufreizenden Strapsen, sogar ein Versuchslabor!
Der Zuschauer ist sofort elektrisiert – und das nicht nur wegen der hochkarätigen Bühnenshow, die ihresgleichen sucht.

rocky-horror-show-foto-18-credit-jens-hauer

Es werden immer noch bei der Regenanimation Zeitungen über den Kopf gehalten und Knicklichter angezündet, um dem Paar den Weg zu leuchten. Bei der Hochzeit des diabolisch wirkenden Dr. Frank N. Furter (Gary Tushaw) mit seinem erschaffenen Muskelmenschen Rocky wurde früher Reis, jetzt Konfetti, geworfen und beim ›Theme Song‹ muss man einfach kräftig mitgrölen. Der Zuschauer schwankt zwischen Faszination und Abscheu, das Stück zwischen Ironie und Glorifikation. 2018 darf die Liebe zur Rocky Horror Show wieder kräftig in Deutschland ausgelebt werden.

Burlesque vom Feinsten

Dominic Boeer (bekannt aus ›Tatort‹, ›Männerhort‹, ›In aller Freundschaft‹) hat den miesesten Job von allen. Denn es gehört zum ›Rocky-Horror‹-Ritual für die Fans, dass der Erzähler mit »Boring«-Rufen verspottet wird. Diese nervigen Publikums-Äußerungen kontert der charmant-seriöse Star durchaus witzig: »Wie lange haben sie geübt, bis Sie das hier mit überzeugender Stimme rufen konnten?« Als eine weibliche Person »Ausziehen!« ruft, antwortet er schlagfertig: »Sehen Sie die vielen Knöpfe meines Anzugs? Da sitzen wir doch morgen noch!« Aber natürlich bekommt am Ende auch der Erzähler seinen wohlverdienten Applaus.

rocky-horror-show-foto-02

Frank N. Furter läuft als Schattenfigur hinter einer weißen Wand zur Hochform auf, wenn er bei Brad den Fellatio und bei Janet einen Cunnilingus hinlegt, dass man nicht anders kann, als lauthals lachend zu applaudieren.
Eine der ästhetisch schönsten Szenen ziemlich am Ende ist eine Choreografie mit Straußenfedern, die den Zuschauer in die 20er Jahre versetzt. Wenn die Erotisierungsmission von Frank N. Furter schon scheitert, dann aber bitte auf unsagbar grandiose Art und Weise.

»Don’t dream it – be it«

Die ›Rocky Horror Show‹ ist ein Musical, welches bis heute mit nichts vergleichbar zu sein scheint. Genau das macht seinen Reiz aus.
Nebenbei hat das Stück auch einige Aha-Effekte. Dr. Scott als durchgeknallter Wissenschaftler erinnert an Dr. Seltsam aus Stanley Kubricks gleichnamigen Film. Und weil das noch nicht reicht, wird Frank N. Furters erster Liebhaber Eddy – wie in Hitchcocks ›Psycho‹ – stilecht hinter einem Duschvorhang erstochen. Das alles geschieht, während Brad und Janet ein Eis in Phallusform aus dem Laborkühlfach lutschen – grotesker geht es nicht.

Trotzdem ist man ein bisschen traurig, dass nach zwei Stunden alles vorbei sein soll. Jedoch bleibt wenig Zeit für Sentimentalität, denn Gary Tushaw steht da in seinen Strapsen mit den anderen auf der Bühne, verbeugt sich und meint charmant: »Sollen wir es noch mal machen? Ach kommt, machen wir es noch mal!« Die Liveband gibt daraufhin lässig zwei Zugaben. Alle springen von ihren Plätzen, »machen den Time Warp again« und sind überglücklich.
Das Publikum träumt nicht, es ist dabei, hat Blut geleckt. Echt und in Farbe, verzaubert von einem »Sweet Transvestite«.

| ANNA NOAH
| Abbildungen: © Jens Hauer

Titelangaben
Rocky Horror Show (BB Promotion GmbH)
nach einer Idee von: Richard O’Brian
Darsteller:
Frank N. Furter: Gary Tushaw
Janet: Sophie Isaacs
Brad: Felix Mosse
Riffraff: Stuart Matthew Price
Magenta: Anna Lidman
Columbia: Holly Atterton
Rocky: Ryan Gosinski
Dr. Scott/Eddy: Daniel Fletcher
u.v.a.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Die Demokratie wird im Alltag gerettet

Nächster Artikel

Seeing Red: An Interview With My Favorite Robot

Weitere Artikel der Kategorie »Bühne«

Heavy-Metal aus dem Schützengraben

Bühne | Konzert: Sabaton Keine andere Metalband ist als komplexe Maschinerie so gut geölt wie Sabaton. Sie liefern neben ihrem (Aufklärungs-)Metal nicht nur eine passende (Kriegs-)Show, sondern gehen auch herzlich auf die Fans ein. ANNA NOAH wurde nicht enttäuscht.

Crap Gigs, And How To Survive Them

Bittles‘ Magazine We have all been there! You’re at a show and the sound is so bad you can’t discern the music from the feedback. Or you are squeezed into a corner so tightly by an unforgiving and unwashed throng of people that you literally feel like you might die from lack of oxygen. Perhaps you enter the venue like an eager beaver and scan the crowd for friendly faces only to realise straight away that you have made a huge mistake. By JOHN BITTLES

Oper als Arbeit

Film | Auf DVD: Die singende Stadt. Calixto Bieitos Parsifal entsteht Wer ein Theater oder eine Oper besucht, sieht auf der Bühne ein abgeschlossenes Kunstwerk. Nicht zu erahnen ist, wie viel Stunden Arbeit von unzähligen Menschen, von denen sich nur ein kleiner Teil nach der Vorstellung verneigt, zu diesem Ergebnis geführt haben. Unter diesem Gesichtspunkt ist es zu verstehen, wenn die Beteiligten verärgert auf jede negative Kritik reagieren. Sie ist ja auch eine Missachtung der Anstrengungen, die sie investiert haben. Von THOMAS ROTHSCHILD

Überladen heiter

Bühne | ›Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand‹ im Karlsruher Sandkorntheater »Spektakulär, unerwartet, komisch und vielfältig – mit einem Ende, das nicht nur die im Stück inbegriffene Staatsanwältin Amanda, die das Ergebnis kurz und prägnant anhand einer Pressekonferenz vor den Journalisten präsentieren möchte, verwirrt!« So ließe sich die momentan aktuelle, entsprechende Inszenierung des Millionensellers ›Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand‹ nach dem Roman von Jonas Jonasson im Karlsruher Sandkorntheater kurz zusammenfassen. Von JENNIFER WARZECHA

Wenn einen die Moral am Genick packt

Bühne | Jugend ohne Gott

Schülerinnen und Schüler, deren Namen nur kurz mittels des ersten Anfangsbuchstabens genannt werden, treffen auf einen Lehrer, der zusammen mit ihnen das System hinterfragt. Welche Begriffe verwenden wir im Alltag: „Neger“ oder „Schwarzer“? Wann gehen Gefühle zu weit und wann werden Bewunderung oder gar Liebe zu Mordabsichten? Und kann das nicht in jeder Situation und Zeit passieren? Von JENNIFER WARZECHA