Spiritus

TITEL-Textfeld | Iryna Fingerova: Spiritus

Tief in der dunklen Nacht ging Addiktia einmal in die Küche, nahm ein Glas vom Tisch, schaute hinein – und verschwand.

Ohne zu zögern hatte das Glas die junge Frau geschluckt. Verzweifelt wand sich Addiktia im reißenden Wasser und schlug mit der Stirn gegen Wände aus Glas, und diese Wände waren die Eingeweide des reißenden Wassers, und von den Schlägen wuchsen ihr Beulen wie Tannenzapfen auf der Stirn.

Das Glas kapierte schnell, welche Beute es gemacht hatte, und begann zu kauen. Es kaute langsam, mit Genuss, konzentriert.

Plötzlich regnete etwas auf Addiktias Kopf herab.

Blub, blub, blub!

Alles um sie her wurde anders, Farbe, Geschmack; das konnte nur eins bedeuten: das Glas hatte sie gesalzen und gepfeffert. Jetzt bearbeiteten seine geriffelten Kiefer Addiktias Kopf, mahlten alles zu einem schönen Brei: Augen, Mund, Nase – alles durcheinander! Die eleganten, gläsernen Scheren rissen ihr die Zähne einzeln aus und jonglierten dann lachend mit den blutigen Molaren!

Als Addiktia schmerzerfüllt dabei zusah, wie ein unsichtbarer und ungeheurer Mund ihr Gesicht Stück um Stück auseinandernahm, hatte sie schon ganz vergessen, wieso sie tief in der dunklen Nacht überhaupt nach einem Glas gesucht hatte.

Komischerweise aber brauchte die junge Frau sich nur an den Kopf zu greifen, um festzustellen, dass alles noch da war. Sie fühlte einen stechenden Schmerz im Bereich des Sonnengeflechts, als hätte jemand ihr Leben an der Angel und zerre es eiskalt den Hals hoch nach draußen. Aus ihrem ganzen Körper strömte Leben: aus dem Bauch, dem Mund, den Ohren. Wie schön! Die bläuliche Substanz schimmerte opalfarben im finsteren Nebel ringsum.

Einatmen – ausatmen. Irgendwie war es Addiktia gelungen, heil zu bleiben. Über ihrem Kopf summten Bienen, fuhren unzählige Güterzüge, sie sah nach oben und durchs Wasser hindurch schien die Welt das allervollkommenste Rätsel.

So war das, als Addiktia einmal von einem Glas gegessen wurde.

Gläser, die Menschen essen, sind gar nicht so selten, hab ich gehört.

| IRYNA FINGEROVA

Iryna Fingerova lebt in Odessa. Ihre Texte wurden von Jakob Walosczyk ins Deutsche übertragen.

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Love & Happiness: New Album Reviews

Nächster Artikel

Die Jungfrau Maria und ich

Weitere Artikel der Kategorie »Prosa«

Suizid

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Suizid

Farb hatte von Anfang an auf Selbstmord getippt, er war aufgeregt, als er jetzt die Kurzmeldung las, und sah seine Selbstmord-These bestätigt. Einige seiner Freunde, sagte Farb, hätten den Mann persönlich gekannt, der Mann habe keinen einzigen Tag im Ghetto verbracht. Er lachte. Viele Gäste würden, statt daß sie zum Salzmeer gingen, die Dachterrasse ihres Hotels aufsuchen, das seien verschiedene Welten, im Ghetto bekomme sie niemand zu Gesicht, sagte er, legte die Zeitung beiseite und setzte sich wieder.

Kartenhaus

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kartenhaus

Wie ein Kartenhaus also, nein, nicht sicher, sagte Tilman, für einen Kollaps  ließen sich verschiedene Szenarien ausmalen, der Kollaps könne sich hinziehen.

Farb schmunzelte. Da lebe jemand, spottete er, seinen latenten Zynismus aus.

Interessant, sagte Annika und schenkte Tee ein, Yin Zhen, sie hatten das Ming-Service aufgedeckt, rostrot, seit einigen Tagen besaßen sie es auch für drei Personen mit einem lindgrünen Drachen, lieb und teuer, Farb hatte ein Blech Pflaumenkuchen gebacken, für alles war gesorgt, das Wetter meinte es gut, Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Agonie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Agonie Der Planet leidet Todesqualen. Du übertreibst, Susanne. Sagt Gramner. Gramner lebt zwei Jahrhunderte vor unserer Zeit. Er kann das nicht wissen. Sein Gespür ist untrüglich.

Am Ende

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Am Ende

Zu guter Letzt wird alles einfach, sagte der Zwilling, wutsch!, und unsere Probleme sind vom Tisch.

Wie, unsere Probleme sind vom Tisch.

Vom Tisch. Weg. Nicht mehr da.

Sind gelöst?

Der Zwilling lachte.

Es gibt sie nicht mehr, verstehst du, sagte Crockeye.

Nein, sagte Bildoon, verstehe ich nicht.

Reader

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Reader

Sie habe es einmal ausprobiert, ja, sagte Anne, ein einziges Mal, und es habe sich nicht gut angefühlt, sie sei bereits im Vorwege skeptisch gewesen, ein Bauchgefühl, gewiß, aber im Endeffekt sei die Innovation nicht zeitsparend.

E-Books ließen sich heute auf ganz unterschiedlichen Endgeräten aufrufen, sagte sie, doch nach wie vor würden E-Book-Reader angeboten, sie habe das selbst erst lernen müssen, es herrsche ein immenses Durcheinander, und es werde immer wieder Neues entwickelt, der Fortschritt nehme einfach kein Ende.

Manches sei verwirrend, sagte Farb, und manches andere erweise sich als Sackgasse.