//

Auflösung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auflösung

Er sehe sich Irrwegen ausgesetzt, sagte Farb, Sackgassen, täuschenden Abzweigungen, wohin das führe, es würden falsche Fragen gestellt.

Zufall, nein, sagte er, das sei kein Zufall und ebenso wenig ein Anzeichen von Demenz, es würden falsche Fährten gelegt.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite.

Tilman schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Absicht, sagte er, das geschehe mit voller Absicht, die Öffentlichkeit werde auf Glatteis geführt.

Wenn dem Esel zu wohl werde, sagte Tilman, gehe er aufs Eis tanzen.

Annika lächelte. Man wisse sich nicht anders zu helfen, sagte sie.

Elitenversteher, spottete Farb, tat sich einen Löffel Sahne auf und strich sie sorgfältig glatt.

Die Politiker seien ohnmächtig, sagte Annika, sie sähen zu, wie sich der Klimakollaps heranwälze, unaufhaltsam, sie stünden hilflos davor, und es sei ihnen nicht möglich, das einzugestehen, das käme ja einer Bankrotterklärung gleich.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte und überlegte, ob er zum Kuchen nicht doch lieber eine Tasse Kaffee tränke, genieße man Yin Zhen nicht ohnehin besser ohne Pflaumenschnitte.

Ohnmächtig, wiederholte Farb, und über den Streit um geeignete Maßnahmen werde kostbare Zeit vertan, sowieso griffen die Maßnahmen zu kurz, sie würden die Situation verschlimmbessern, der Homo sapiens verkenne die Lage, denn nicht er bediene sich des Maschinenwesens, nein, umgekehrt, das Maschinenwesen, mit aggressiven Technologien aufrüstend, bediene sich des Homo sapiens, das verhalte sich wie in der Fabel vom Hasen und vom Igel, der Homo sapiens werde hinters Licht geführt und bemerke es nicht.

Verständlich, daß ihn das Gefühl von Ohnmacht plage, sagte Annika und lächelte.

Farb tat sich eine zweite Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Sahne.

Farb verteilte die Sahne auf der Pflaumenschnitte und strich sie sorgfältig glatt.

Annika schenkte sich Tee nach, Yin Zhen, sie hatte das Drachenservice aufgedeckt, rostrot, sie war vernarrt in dieses Motiv, sei der Drache nicht ein Glückssymbol, eine Schlange müsse, heiße es, zweihundert Jahre alt werden, bevor sie sich in einen Drachen verwandle.

Man wundere sich, sagte Tilman, mit welch glückseligen Verheißungen der Homo sapiens immer wieder gefügig gemacht werde, was werde ihm nicht alles versprochen, Gesundheit, Heilung von Krebs, von Aids und anderen Plagen, ein langes, wenn nicht gar ewiges Leben, Tote in Eis konservieren und irgendwann wieder auftauen, eine schadstoffreie Umwelt mittels Geo-Engineering, die Besiedelung ferner Planeten, der Lahme werde wieder laufen können, der Blinde wieder sehen, und was nicht alles, er nehme das für bare Münze.

Wöchentlich eine verbesserte Medizin, unermeßlicher Reichtum im Glücksspiel, spottete Farb, wahrhaft ein Schlaraffenland, er lasse sich kräftig einseifen, unser Homo sapiens, und über diesem schrillen Gewese, über den zuckersüßen Klängen laste trotz allem ein unbehagliches Gefühl, die erdrückende Ohnmacht sei unabwendbar, er werde zum Spielball des Maschinenwesens, von dessen selbstfahrenden Autos, dessen künstlicher Intelligenz, dessen ChatGPT.

Der Homo sapiens sei marginalisiert, sagte Tilman, er werde aufgerieben zwischen den aggressiven Technologien des Maschinenwesens und den heftigen Reaktionen der Natur, noch scheine er sich in Sicherheit zu wiegen und zeige sich zuversichtlich, doch seine Augen würden ihm aufgehen, ihm werde unbehaglich zumute, die ergriffenen Maßnahmen erwiesen sich als Flickschusterei.

Annika warf einen Blick zum Gohliser Schlößchen.

Spät, sagte Tilman, es sei zu spät, noch auf die Situation einzuwirken, er habe nicht einmal die widerstreitenden Kräfte erkannt, er wähne ja das Maschinenwesen auf seiner Seite, welch verhängnisvoller Irrtum, geschweige denn daß er wirksame Maßnahmen ergreife, nein, ausgeschlossen, seine Überlebenschancen seien gleich null, kein Zweifel.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wie im Lebenskreislauf

Nächster Artikel

Elternliebe

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Karttinger 7

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 7

Der Moderator schlug der Länge nach hin.

Welch unglückseliges Ende, dachte er noch, und sei Wayne nicht ein Garant für Recht und Ordnung, ein aufrechter Patriot, das könne nicht sein, unmöglich, wer verantworte das Drehbuch, und, sterbend, ob er etwa, errare humanum est, sich täusche, und es habe sich nicht um Wayne gehandelt.

Der Geheimrat seinerseits hatte den beiden mehr oder minder verständnislos zugehört, der Western war nie seins, hatte sich aber, sobald er den Wayne zum Revolver greifen sah, geistesgegenwärtig gebückt und war unter dem Geländer hindurch in den Fluß gesprungen, das hätte der Moderator ihm im Leben nicht zugetraut

Leben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leben

Wo stammt das Leben her, von irgendwoher muß es ja kommen, oder ist es bloß einfach da, sonst nichts, unvorstellbar.

Das beschäftigt dich, Tilman?

Wo sein Ursprung liegt und wie das Leben sortiert ist, gewiß, das beschäftigt mich, ob einem Tier mehr davon zuteil wird als einer Pflanze, dem mächtigen Baum mehr als dem stillen Gänseblümchen, auf welche Weise ich daran teilhabe, und blüht das Gänseblümchen auch für mich.

Eliten

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eliten

Aber selbstverständlich, sagte Gramner, sie seien nicht von gestern.

Nicht daß sie ahnungslos wären, die Eliten der Moderne, sagte Pirelli, sie seien informiert, einundzwanzigstes Jahrhundert, sagte er, kommuniziert werde digital ohne zeitlichen Verzug, Spitzentechnologie, Hochleistungsgesellschaft, besser geht’s nimmer, das sei ein anderes Thema als hier bei uns, wo gerade einmal die Bahnverbindung quer über den Kontinent gelegt werde, Union Pacific, und der Goldrausch die Berichterstattung in den Gazetten dominiere.

Die Eliten wüßten bestens Bescheid, spottete Crockeye, sie führen uns.

Absolut, sagte London und lachte, die Eliten gäben den Ton an.

Ausrottung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausrottung

Nein, sagte Termoth, in Kalifornien habe es keine so gravierenden Einschnitte gegeben wie 1832 den Trail of Tears oder 1890 die Schlacht am Wounded Knee, in Kalifornien sei die Ausrottung der Ureinwohner geschmeidig verlaufen, es habe keinen Aufschrei gegeben, und es sei nicht leicht, das Geschehen zu rekonstruieren, zumal die indigenen Stämme bereits von den Spaniern gewaltsam hätten christianisiert werden sollen, doch statt eines Erfolges habe sich Syphilis ausgebreitet und dazu in Epidemien Pocken, Typhus und Cholera, unerfreuliche Mitbringsel der Eroberer – die indigene Bevölkerung, vor der spanischen Missionierung siebzigtausend, sei bis zum Ende der Indianerkriege 1890 um über drei Viertel auf siebzehntausend reduziert worden.

Touste stutzte und spielte einige Töne auf der Mundharmonika.

Thimbleman starrte den Ausguck an.

Crockeye lächelte.

Eldin vergaß den Schmerz in der Schulter.

Ein X oder ein U

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ein X oder ein U

Wenn nichts sonst, sagte Gramner, so müsse man doch das Ausmaß an Selbsttäuschung schätzen, zu dem der Mensch fähig sei.

Ein Scherz, sagte der Ausguck und lachte lauthals, er war guter Stimmung und hatte Lust, einen Salto zu schlagen.

Harmat blickte verständnislos.

Interessant, sagte LaBelle, beugte sich über die Reling und blickte hinaus auf die Lagune und die Einöde, die sie umgab und sich bis zum Horizont erstreckte, ein trostloser Ort.

Touste hielt die Augen geschlossen und träumte.