Comic | Jillian Tamaki: Grenzenlos
Die kanadische Comic-Künstlerin Jillian Tamaki erlangte mit ›Ein Sommer am See‹ große Aufmerksamkeit. Nun liegt ihr neuer Band ›Grenzenlos‹ beim Berliner Verlag Reprodukt in deutscher Übersetzung vor. BIRTE FÖRSTER ist grenzenlos begeistert.
Es passiert irgendwo in einer ganz normalen Stadt in einer ganz normalen Welt: Eine junge Frau wird langsam immer kleiner. Erst denken ihr Nahestehende nur, dass sie abgenommen hat. Dann schrumpft sie aber deutlich. Der Prozess schreitet immer schneller voran, bis sie im Waschbecken baden und schließlich durch die Furchen im Holztisch laufen kann. Lange versuchen die Ärzte herauszufinden, was sie hat. Aber es geht immer weiter. »Mein Körper löst sich auf, aber ich bin immer noch nicht vollständig verschwunden«, beschreibt die Protagonistin ihren Zustand, der sie immer weiter von den anderen Menschen abkapselt. Es ist ein bisschen wie bei Kafka: kein Ausweg, keine rettende Lösung in Sicht.
Jillian Tamaki lässt in ihrer Geschichte eine düstere Vorstellung Realität werden und zeigt die Ohnmacht eines Individuums gegenüber den Geschehnissen. In ihrer Graphic Novel ›Grenzenlos‹ behandelt die Comiczeichnerin aber nicht nur fiktive Stoffe. Sie erzählt auch vom Alltagsleben oder von Identitätsproblemen junger Menschen.
Identitätskrisen
Eine junge Frau wird völlig von ihrem Hautproblem dominiert. Irgendwann kreisen ihre Gedanken nur noch um die Themen Akne, Schuppenflechte oder Dermatitis. Sie probiert sich durch die ganze Bandbreite an Pflegeprodukten – ohne großen Erfolg. »Aber was steckte dahinter? Wonach habe ich eigentlich gesucht? Die Antwort ist: Hoffnung«, wird ihr selbst irgendwann bewusst. Schließlich entdeckt sie ClairFree – das lang ersehnte Mittel, das ihr wirklich hilft. Sie gerät in die Mühlen einer Industrie und beginnt selbst das Mittel zu vertreiben. Genauso thematisiert Tamaki auch die Präsenz in den sozialen Netzwerken. Was passiert, wenn das reale Leben vernachlässigt wird, sich alles nur noch auf die Außendarstellung bei Facebook richtet. Oder wie der Alltag durcheinandergerät, wenn plötzlich Bettwanzen zu Hause ihr Unwesen treiben und zum alles dominierenden Thema werden.
Die kanadische Comiczeichnerin ist bislang vor allem für ihre Graphic Novel ›Ein Sommer am See‹ (2014) bekannt, für die sie mit dem Eisner Award ausgezeichnet wurde. Oft steht in den Comics der 37-jährigen das Leben junger Erwachsener im Mittelpunkt, zwischenmenschliche Beziehungen und persönliche Freiheit, so wie auch in der Graphic Novel ›Skim‹ (2008).
Thematische Vielfalt in flexiblen Formen
Mit ihren gezeichneten Kurzgeschichten spricht die Zeichnerin in ›Grenzenlos‹ viele Themen an, die unsere Gesellschaft und Zeit bestimmen. In den jeweiligen Darstellungen erweist sie sich dabei als erstaunlich wandelbar. Jede Geschichte erzählt sie mit anderen graphischen Mitteln. Mal ist ihr Stil filigran, konzentriert auf die Details, mal cartoonhafter oder mit Blick fürs Atmosphärische gezeichnet.
Genauso variiert sie mit Farben, erzählt in knalligem Rot, bläulichen Tönen oder in Schwarz-weiß. Auch mit ihren großformatigen Perspektiven zu Beginn und am Ende der Graphic Novel beeindruckt sie. Wie sie einen Vogel zeichnet, der sich im Flug bewegt, das zeugt von genauer Beobachtungsgabe. Jillian Tamaki denkt sich in diverse Phänomene hinein, ob Realität oder Fiktion, Mensch oder Tier. Es gibt keine Grenzen.
Titelangaben
Jillian Tamaki: Grenzenlos
Berlin: Reprodukt 2018
248 Seiten. 24 Euro
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