Von der Suche nach Identität, Bettwanzen und dem freien Flug der Vögel

Comic | Jillian Tamaki: Grenzenlos

Die kanadische Comic-Künstlerin Jillian Tamaki erlangte mit ›Ein Sommer am See‹ große Aufmerksamkeit. Nun liegt ihr neuer Band ›Grenzenlos‹ beim Berliner Verlag Reprodukt in deutscher Übersetzung vor. BIRTE FÖRSTER ist grenzenlos begeistert.

Tamaki - Grenzenlos - 9783956401343Es passiert irgendwo in einer ganz normalen Stadt in einer ganz normalen Welt: Eine junge Frau wird langsam immer kleiner. Erst denken ihr Nahestehende nur, dass sie abgenommen hat. Dann schrumpft sie aber deutlich. Der Prozess schreitet immer schneller voran, bis sie im Waschbecken baden und schließlich durch die Furchen im Holztisch laufen kann. Lange versuchen die Ärzte herauszufinden, was sie hat. Aber es geht immer weiter. »Mein Körper löst sich auf, aber ich bin immer noch nicht vollständig verschwunden«, beschreibt die Protagonistin ihren Zustand, der sie immer weiter von den anderen Menschen abkapselt. Es ist ein bisschen wie bei Kafka: kein Ausweg, keine rettende Lösung in Sicht.

Jillian Tamaki lässt in ihrer Geschichte eine düstere Vorstellung Realität werden und zeigt die Ohnmacht eines Individuums gegenüber den Geschehnissen. In ihrer Graphic Novel ›Grenzenlos‹ behandelt die Comiczeichnerin aber nicht nur fiktive Stoffe. Sie erzählt auch vom Alltagsleben oder von Identitätsproblemen junger Menschen.

Identitätskrisen

Eine junge Frau wird völlig von ihrem Hautproblem dominiert. Irgendwann kreisen ihre Gedanken nur noch um die Themen Akne, Schuppenflechte oder Dermatitis. Sie probiert sich durch die ganze Bandbreite an Pflegeprodukten – ohne großen Erfolg. »Aber was steckte dahinter? Wonach habe ich eigentlich gesucht? Die Antwort ist: Hoffnung«, wird ihr selbst irgendwann bewusst. Schließlich entdeckt sie ClairFree – das lang ersehnte Mittel, das ihr wirklich hilft. Sie gerät in die Mühlen einer Industrie und beginnt selbst das Mittel zu vertreiben. Genauso thematisiert Tamaki auch die Präsenz in den sozialen Netzwerken. Was passiert, wenn das reale Leben vernachlässigt wird, sich alles nur noch auf die Außendarstellung bei Facebook richtet. Oder wie der Alltag durcheinandergerät, wenn plötzlich Bettwanzen zu Hause ihr Unwesen treiben und zum alles dominierenden Thema werden.

Die kanadische Comiczeichnerin ist bislang vor allem für ihre Graphic Novel ›Ein Sommer am See‹ (2014) bekannt, für die sie mit dem Eisner Award ausgezeichnet wurde. Oft steht in den Comics der 37-jährigen das Leben junger Erwachsener im Mittelpunkt, zwischenmenschliche Beziehungen und persönliche Freiheit, so wie auch in der Graphic Novel ›Skim‹ (2008).

Thematische Vielfalt in flexiblen Formen

Mit ihren gezeichneten Kurzgeschichten spricht die Zeichnerin in ›Grenzenlos‹ viele Themen an, die unsere Gesellschaft und Zeit bestimmen. In den jeweiligen Darstellungen erweist sie sich dabei als erstaunlich wandelbar. Jede Geschichte erzählt sie mit anderen graphischen Mitteln. Mal ist ihr Stil filigran, konzentriert auf die Details, mal cartoonhafter oder mit Blick fürs Atmosphärische gezeichnet.

J. Tamaki: Grenzenlos - Leseprobe
J. Tamaki: Grenzenlos – Leseprobe

Genauso variiert sie mit Farben, erzählt in knalligem Rot, bläulichen Tönen oder in Schwarz-weiß. Auch mit ihren großformatigen Perspektiven zu Beginn und am Ende der Graphic Novel beeindruckt sie. Wie sie einen Vogel zeichnet, der sich im Flug bewegt, das zeugt von genauer Beobachtungsgabe. Jillian Tamaki denkt sich in diverse Phänomene hinein, ob Realität oder Fiktion, Mensch oder Tier. Es gibt keine Grenzen.

| BIRTE FÖRSTER

Titelangaben
Jillian Tamaki: Grenzenlos
Berlin: Reprodukt 2018
248 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Herr Winter, geh hinter

Nächster Artikel

SciFi-Hommage an die 1980er

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Sommerzählung mit unfreiwilligem Ende

Comic | Volker Reiche: Snirks Café Volker Reiche hat im Frühjahr und Sommer daran gearbeitet, sein Strizz-Universum in der ›FAZ‹ auszubauen. ›Snirks Café‹ hat sich aber nicht mehr so recht zur Endlos-Reihe entfalten können, denn die FAZ hat die Comicstrips aus ihrem Feuilleton gestrichen. ANDREAS ALT wirft einen Blick auf die 77-teilige Rumpfserie, die jetzt komplett bei Suhrkamp erschienen ist.

Zeit für den Showdown!

Comic | J.Mechner, L.Pham & A.Puvilland: Der Schatz der Tempelritter – Drittes Buch: Der Gral (Templar) ›Der Gral‹ ist der dritte und letzte Band des historischen Abenteuerkrimis ›Der Schatz der Tempelritter‹. Hier geht es nun genau so zur Sache, wie BORIS KUNZ sich das vom ersten Band an erhofft hat.

Weltuntergang mit Happy End

Comic | Philippe »Zep« Chappuis: The End

Der Schweizer Comic-Zeichner Zep ist international für seine komische Comic-Reihe über den Jugendlichen Titeuf bekannt. Mit ›The End‹ veröffentlichte er eine Graphic Novel für Erwachsene, die einen aufrüttelnden Kommentar zur Klimakrise abgibt. Denn in dem Öko-Thriller setzt sich ein weltweites Netzwerk aus Bäumen mit tödlichen chemischen Stoffen gegen die Naturzerstörung der Menschheit zur Wehr. FLORIAN BIRNMEYER hat ihn gelesen.

Die Rückkehr der frankobelgischen Serien

Comic | Buchmesse spezial Eine halbe Stunde im Comiczentrum der Frankfurter Buchmesse war arg knapp bemessen für die Geschichte des neuen Comicmagazins Zack. Es war vor 15 Jahren auf der Buchmesse wiederbelebt worden. Den dennoch aufschlussreichen Rückblick von drei der vier Chefredakteure des neuen Magazins und Verlagsleiter Klaus Schleiter hörte sich ANDREAS ALT an.

Fiktive Obduktion eines realen Verbrechens

Comic | Andre Parks / Chris Samnee: Capote In Kansas   Der bei ›Panini‹ erschienene Comic ›Capote in Kansas‹ leuchtet fiktiv, aber nah am Leben die Entstehungsgeschichte von Capotes gefeiertem Tatsachenroman ›Kaltblütig‹ aus. Dank Autor Andre Parks und Zeichner Chris Samnee hat CHRISTIAN NEUBERT mit dem Starautor eine Reise ins ländliche Kansas unternommen.