Auf der dunklen Seite des Mondes

Roman | Michael Chabon: Moonglow

Er ist überbordend vor purer Fabulierfreude, kuriosen Details und abwegigen Erzählsträngen – und kommt doch als Familiengeschichte oder gar Autobiographie daher: ›Moonglow‹, der neueste Roman des Pulitzerpreisträgers Michael Chabon. Doch Vorsicht, dieses Werk ist leicht entflammbar! Von INGEBORG JAISER

Michael Chabon: Moonglow»Am Anfang des Sommers traf ich mich zum Mittagessen mit meinem Vater, dem Gangster, den seine undurchsichtigen Geschäfte übers Wochenende in die Stadt geführt hatten.« Mit diesem starken ersten Satz begann einst Michael Chabons fulminantes Debüt ›Die Geheimnisse von Pittsburgh‹, das den damals 24jährigen Literaturstudenten über Nacht zum literarischen Shooting-Star gemacht hat. Fast 30 Jahre und gut 10 Romane später ist Chabon immer noch suspekten Familiengeschichten und zwielichtigen Gestalten verfallen – vielleicht mehr denn je?

So schöpft ›Moonglow‹, sein neuester Roman, aus einem schier unerschöpflichen Reservoir von verschrobenen Verwandten, obskuren Bekannten und leicht abgedrehten Versionen der Zeitgeschichte. Im Mittelpunkt steht der Großvater, der 1990 – mit Knochenkrebs im Endstadium – von schmerzstillenden Opioiden benebelt und einer »palliativen Wolke« umhüllt, mit plötzlich gelöster Zunge seine Lebensbilanz offenbart, während der Enkel und Ich-Erzähler Michael an seinem Sterbebett lauscht und später alles notieren wird. Ausgebreitet auf fast 500 Seiten und ausgestattet mit diesen »ganzen ausgefallenen Metaphern« – so wie es sich der Großvater gewünscht hat.

Autobiographie oder Fiktion?

Ist das nun Fiktion, Fantasy, Memoir? Wie viele autobiographische Geschichten, wie viel nachprüfbare Realität hat der Autor in diesem überbordenden Roman verwoben? Tatsächlich spielten die Großeltern eine wichtige Rolle in Michael Chabons Leben. Und sein Großvater starb just, »als viele Deutsche damit beschäftigt [waren], Löcher in die Berliner Mauer zu schlagen.«

Welch unkonventionelle Großeltern, welch außergewöhnliche Lebensgeschichten! Der 1915 geborene Moonglow-Großvater changiert zwischen Pressburger Deutsch und Jiddisch, zwischen analytischer Besonnenheit und mordlüsterner Wut, zwischen genialem Tüftlertum und raumfahrtbesessenem Wahnsinn. Genannt: Schönredner, Schürzenjäger, Dummschwätzer.

Beim Militär erkennt man sein Potenzial, Brücken zu sprengen und Menschen zu erdrosseln, im Zweiten Weltkrieg wird er von einer Spionageeinheit abgeworben, um deutsche Wissenschaftler aufzuspüren, allen voran Wernher von Braun. Großartig und überschäumend vor rabenschwarzem Humor sind die Szenen im deutschen Vellinghausen, als schließlich ein leutselig kooperativer Priester den Weg zu einer versteckten V2-Rakete weist. Da kann der blonde, deutsche Raumfahrtingenieur nicht weit sein …

Wahrsagekarten für Hexen

Von Angesicht zu Angesicht trifft der Großvater den inzwischen hochdekorierten Wernher von Braun allerdings erst 1975, auf einem Raumfahrt-Kongress in Cocoa Beach – just in dem Moment, als von Braun sich anschickt, an eine Palme zu pinkeln. Die außergewöhnliche Begegnung verschafft dem Großvater immerhin einen neuen Job: fortan bastelt er Miniatur-Mondsiedlungen für die NASA, so wie andere Leute Landschaften für die Spielzeugeisenbahn. Und er zieht sich, gekleidet wie »ein pensionierter Leiter eines zionistischen Sommercamps« mit »nachgemachten Birkenstocks aus israelischer Produktion«, in eine Seniorenresidenz in Florida zurück, wo er noch einmal der Liebe verfällt.

Ein Jahr nach dem Tod der Großmutter. Auch sie eine schillernde Figur: einerseits mondän französisch parlierend, mit dem Talent zur Fernsehköchin, andererseits schwer traumatisiert und alptraumgeplagt, mit verräterischen tätowierten Ziffern am Unterarm und im Besitz von »Wahrsagekarten für Hexen«. Doch diese Geschichte ergäbe schon Stoff genug für ein neues Buch.

Ich kenne die Geschichte so

Augenzwinkernd vermischt Chabon Fakten mit Fiktion, Familien- mit Weltgeschichte, historisch Verbürgtes mit zufällig Aufgeschnapptem. »Ich kenne die Geschichte so …« ist eine der beliebten Floskeln in ›Moonglow‹. Als Schriftsteller sieht sich Chabon als professioneller Lügner, als Zauberer, der mit Taschenspielertricks die Grenzen verwischt. So dienen die eingestreuten Fußnoten in ›Moonglow‹ eher der Verwirrung und Erheiterung, als dass sie wahre Aufklärung brächten. »Du willst wissen, was in Nordhausen passiert ist? Dann schlag es nach«, schnaubt der Großvater auf dem Sterbebett, als es ans Eingemachte geht. Doch die Einträge in der Encyclopedia Britannica sind brutaler, bitterer, als es eine Erzählung ahnen ließe.

Mit dem Titel ›Moonglow‹ sind galaktische Fährten gelegt. Ausgehend vom guten alten Benny-Goodman-Song bis zum erfolgreichsten Album von Pink Floyd. »Eigentlich gibt es keine dunkle Seite des Mondes. In Wirklichkeit ist alles dunkel dort.« Dass dieses Zitat Wernher von Braun in den Mund gelegt wird, ist eines der genialen Kunstgriffe dieses grandiosen, detailversessenen und -verliebten Romans.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Michael Chabon: Moonglow
Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2018
492 Seiten. 24,00 Euro
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