Musik | My Morning Jacket: At Dawn
›At Dawn‹, 2001 in New York aufgenommen, ist das zweite Studio Album der Band My Morning Jacket und bedeutet für sie einen stilistischen Wendepunkt, der sie vom alternative Country zum psychedelischen Indie Rock mit Ambient Elementen führte. Bei 14 Tracks auf mehr als einer Stunde Spielzeit ist das Album ein wahres Feuerwerk an Emotionen, das den Zuhörer lange Zeit wie einen Geist heimsuchen wird – findet MARC HOINKIS
Ruhig und melancholisch
Der Beginn des Albums, mit dem Track ›At Dawn‹, vermittelt ab der ersten Sekunde das Ambient Feeling, welches sich durch das ganze Album zieht. Ein tiefes Grollen, gepaart mit einem wabernden Synth, bahnt sich langsam an, wie das Morgengrauen. Exotisch anmutende Trommeln führen endlich zum typisch verhallten Gesang Jim James‘, der von einer akustischen Gitarre begleitet wird.
Er singt über die »Hobos«, die ihm erklären, dass die Musik keine Zukunft für ihn darstellt, jedoch widersetzt er sich ihrer Meinung, sie stärkt ihn regelrecht.
›Lowdown‹, der zweite Track des Albums, kommt voll instrumentiert daher und zeigt ein weiteres Element, welches sich durch das komplette Album zieht: die sympathische Bandraumatmosphäre, die sich durch die unperfekte Spielweise der Band zeigt.
Das Thema des Songs scheint sich um eine Beziehung zu drehen, in der sich der eine Part von (psychischer) Gewalt abwendet und sich auf hippieske Weise versöhne will: »You only gotta dance with me«.
›The way that he sings‹ beschreibt, unterlegt mit vollem Klang und treibendem Rhythmus, den wahren Sinn von Musik. Mit den anfangs gestellten Fragen wird klar, dass es Jim James nicht um das ganze Drumherum geht. Er verliebt sich stets in die Seele eines Musikers. Passend zu der Zeile »It’s just the way that he sings/ Not the words that he says« bringt er eine Kostprobe seines merkwürdigen Kauderwelsches zum Besten, dass noch an einigen anderen Stellen auf diesem Album zu hören sein wird.
›Death is my sleezy pay‹ steigt mit folkiger Mundharmonika und Gitarre ein. Der schleppende Rhythmus trägt mit marschierenden rhythmischen Akzenten den jaulenden Gesang ins Jenseits, aus dem auch das leise Geflüster im Hintergrund zu stammen scheint.
Der Song scheint sich um die Beziehung zweier Menschen zu drehen, die mit schmerzlich romantischer Sehnsucht schwerer zu tragen ist, als der Tod.
Der Track ›Hopefully‹ vermittelt durch das »I’m ready when you are« die gemütliche Bandraumatmosphäre. Sie wird jedoch durch eingespielte Wüstengeräusche auf eine andere Ebene erhoben. Der verhallte Gesang und die einsame Gitarre werden wieder von einem gestrichenen Ambiente getragen.
Möglicherweise stellt das Stück das Geständnis einer liebenden Person da, die ihrem Gegenüber leider nicht die Aufmerksamkeit schenkte, die sie verdient hätte. Daher macht sie sich Sorgen um die Beziehung. Der Song geht nahtlos in das nächste Stück über.
Die sechste Nummer, ›Bermuda Highway‹, ist auffällig sparsam instrumentiert. Das Stück harmoniert wunderbar mit Jim James‘ Stimme, auch sehr behutsam im Background, lediglich einzelne Töne bringen etwas dissharmonische Unruhe in das Stück.
James kommt durch die Szenerie der Stadt beinahe wie der Flâneur rüber, allerdings stellt er sich tiefgründige Fragen. Letztendlich sinniert er über das Leben und ruft dazu auf, seine Träume nicht fallen zu lassen, egal wie einfältig sie einem erscheinen.
Die Band dreht auf
Der nächste Song, ›Honest Man‹, bricht durch seine Energie die schwermütige Atmosphäre. Das dreckige laid back Blues Riff zeigt, dass die Schmusemelodien des Albums nicht das Einzige sind, was die Jungs drauf haben. Passend zum Text stampfen die Drums mit voller kraft voraus, der Rest folgt. Die Band fährt hier ihre haarsträubendste und dreckigste Energie des Albums auf, die mit viel Distortion und wildem Geschrei den Zuhörer aus der der melancholischen Trance holt.
Das typische Blues Thema des Songs bezieht sich auf den von Gut und Böse, Gott und Teufel hin und her gezogenen Mann. James schreit dem Hörer direkt ins Gesicht, dass man aber trotz der vielen bösen Energie als aufrichtiger Mensch auf dieser Erde wandeln kann.
Der anschließende, freundlichere Song ›X-Mas Curtain‹ steht genau richtig an dieser Stelle, denn es geht ebenfalls um Aufrichtigkeit. Das Intro fliegt förmlich zum Gesang, indem James sich und den Drummer J als »criminals who never brake the law« bezeichnet. In einem Interview erzählt er, dass sie beide in der Weihnachtszeit in Elektronikmärkten Walkmans und Kassetten gestohlen haben, um sie an Obdachlose zu verteilen. Sie fühlten sich dadurch nicht wie Gesetzesbrecher, sondern eher wie Robin Hood.
Das Stück kommt besonders rhythmisch durch die unterstützenden Keys daher. Es ist ebenfalls sehr voll instrumentiert und bietet viel Platz für melodiöse Instrumentalparts.
›Just because I do‹ fährt direkt mit voller Energie auf. Die Musik klingt zum ersten Mal richtig fröhlich, jedoch lässt der kryptische Text eine weitere Beziehungskrise vermuten, die damit endet, dass der Protagonist seinen Part los werden will.
Der Boden der Tatsachen
Nach einigen energiegeladenen Stücken holt ›If it smashes down‹ den Hörer wieder auf den Boden der tragischen Tatsachen zurück. Das hart gezupfte Banjo und der jaulende Gesang erschaffen eine schmerzhaft bittere Atmosphäre. Der melancholisch depressive Text sticht direkt ins Herz und hinterlässt eine Narbe, die dem Hörer vielleicht über das eigene Leben nachdenken lässt.
›I need it most‹ nimmt die bittere Stimmung der vorangegangenen Nummer auf, allerdings wieder mit einer etwas volleren Instrumentation. Das Stück wird von der Rhythmusgitarre und einer sehnsüchtigen Melodie bestimmt, jedoch steigen nach und nach Orgel, Background und andere Zupfinstrumente ein.
Auch dieses Stück scheint von einer Beziehung zu berichten. Sie wird ebenfalls von Schmerz und Leid begleitet, da das Gegenüber einem schrecklichen Schicksal ausgesetzt ist. Jedoch ist die Liebe des Protagonisten sehr bodenständig und erwachsen.
Das zwölfte Stück, ›Phone Went West‹, ist im Gegensatz zum Rest sehr pointiert und eher minimalistisch gehalten und erinnert an einen Reggae Beat.
Und abermals scheint es sich um eine Beziehung zu drehen. Sie beruht auf Misstrauen und Unsicherheit, der Protagonist fühlt sich offensichtlich sehr verunsichert und will einfach nur die Bestätigung, er sei der Einzige für seinen Partner.
Mit ›Strangulation‹ fährt die Band noch einmal alle Geschütze auf: Scheppernde Drums im Sechsertakt, Staccato Keys, herzzerreißende Riffs, entferntes Geschrei und dann … Nur noch eine akustische Gitarre und Jim James verhallter, trauriger Gesang. Die Band setzt wieder ein, diesmal behutsam und sehnsüchtig. Gegen Ende des Songs dreht die Band dann noch einmal völlig auf und steigert sich bis zu dem wirklich merkwürdigen Ende.
Der Text klingt beinahe wie ein Abschiedsbrief. Die Beziehungsprobleme, die in den vorherigen Songs bereits angesprochen wurden, werden hier noch einmal aufgegriffen und führen leidig zu dem Entschluss, nichts mehr spüren zu wollen.
Das Album endet mit dem ›Untitled Bonus Track‹, der unter anderem auch den Titel ›Mediate, Try not to hate, on love yer mate, like sex on 8‹ trägt. Das Stück, wieder mit den Wüstengeräuschen untermalt, beginnt mit einer akustischen Gitarre und avanciert schnell zu einer atmosphärischen Klangfläche. Es nimmt das musikalische Thema von ›I need it most‹ auf, jedoch ist es hier bunter instrumentiert. Ab und zu fällt das Stück aus dem Rhythmus, findet sich jedoch wieder ein. Es hört sehr abrupt ohne Vorwahrung auf und das Album ist zu Ende.
Fazit
In den Stücken auf diesem Album wird vor, zwischen und nach dem Text viel Platz für Instrumentalteile gelassen. Außerdem ist eine Vielzahl der Stücke stark instrumentiert und durch die große Instrumentenauswahl sowohl dicht, als auch klanglich sehr facettenreich. Obwohl auch elektronische Instrumente eingesetzt werden, klingt keines der Stücke künstlich.
Man kann förmlich spüren, wie die Musiker die Musik auskosten und jede Ecke damit füllen. Ein konstantes Moment auf diesem Album ist der durchgehend sehr hohe und mit einem starken Hall versehen Gesang Jim James‘. Auffällig ist außerdem, dass die teils unperfekte Spielweise der Musiker die sympathische Bandraumatmosphäre schafft, die einem die Musik so persönlich erscheinen lässt und dadurch dem Hörer zugänglicher macht.
Die Songs beruhen meist auf klaren Songstrukturen, die von sehr prägnanten Riffs bestimmt werden, die vielen Wiederholungen machen die Songs dabei eher eingängig als eintönig. Eine weitere Besonderheit liegt im Gesang Jim James‘: Seine Texte, die sich nebenbei bemerkt nur gelegentlich reimen und eher wie Prosa lesen, trägt der Sänger selten syllabisch, sondern eher melismatisch oder arhythmisch vor.
Die durch und durch romantischen Texte greifen wiederkehrende, zentrale Themen wie die Anrede einer Person, Schicksal, das Mystische/Göttliche und Abhängigkeit, nicht nur von Drogen, auf. Der Rahmen des Albums liegt im Feld der Beziehung: zur Welt, zu Personen, zu Substanzen, zur Musik … Es beginnt mit dem Aufsteigen des Sängers durch die Musik, bewegt sich durch viele tragische Beziehungsgeschichten und endet mit einem anmutenden Todeswunsch. Das Album endet ebenso plötzlich wie das Leben.