Europa – Märchen über Märchen

Kinderbuch | Dagmar Fink: Der Zauberspiegel

Wer in einem so großen Gebiet wie Europa Märchen sucht, wird wahrhaft fündig. Aus der Überfülle an umherlaufenden Geschichten fünfundzwanzig auszuwählen, braucht wahrhaft Mut. Um aus der Auswahl eine besonders gelungene Komposition zu machen, brauchte es mehr als ein Quäntchen Glück. Wenn das kein Märchen ist! Von MAGALI HEIẞLER

Zauberspiegel - 9783772527654Dieses Buch ist schön, daran gibt es nichts zu deuten. Der Umfang, der es gerade richtig in der Hand liegen lässt zum Vorlesen, das feste, aber nicht zu dicke Papier, das das Umblättern ohne Schwierigkeiten ermöglicht, Schriftbild, Zeilenabstand, ideale Kontraste, die warmen Farben des Einbands, das Lesebändchen, alles ist schlicht und strahlt doch den Hauch von Luxus aus, den man umgehend mit einem »guten« Buch assoziiert. Die inhaltliche Zusammenstellung ist durchdacht, kürzere und einfacher gebaute Märchen gehen längeren, komplexeren voraus. Erwecken die Märchen den Eindruck, auf sehr alten Motiven zu fußen, ist die gewählte Sprache doch zeitgemäß genug, um auch sehr junge Kinder gut verstehen zu lassen, was geschieht, wie es geschieht und warum die Geschichte ausgeht, wie sie eben ausgeht.

Unterbrochen wird die Abfolge Geschichten von Gedichten, die grob den Jahreslauf nachzeichnen. Die Auswahl der Dichterinnen (zwei) und Dichter (zwölf) birgt Überraschendes. Geschmückt sind die Märchen mit wenigen, äußerst einfach gehaltenen, dafür aber ausdrucksstarken Bleistiftillustrationen von Bettina Stietencron. Selbstverständlich gibt es ein Nachwort, Erläuterungen zu den Märchen, Inhalts- und Quellenverzeichnis. Die Ausstattung ist beispielhaft.

Poetisch, geheimnisvoll, weise, zartschön – und ungehemmt materialistisch

Irland, Ukraine, Südfrankreich, Schweden, Estland, Russland, Flandern und Siebenbürgen sind einige der Ecken, aus denen die Herausgeberin ihre Märchen hervorgezaubert hat. Helden, tapfere Prinzen, wunderschöne Königstöchter, geheimnisvolle Naturkräfte in menschlicher Gestalt, sprechende Tierwesen dürfen auftreten und Wunderbares vollbringen. In die Erzählsprache ist viel traditionell Magisches gewoben, Reime und Sprüchlein, die magische Zahl drei und ihre Vielfache. Zauberische Landschaften entstehen aus dem Nichts, regelrechte Bildteppiche werden gewoben. Die grundsätzliche Schlichtheit im Ausdruck verleiht den Geschichten etwas Holzschnittartiges. Es gibt keine Ablenkung durch farbige Wortwahl, die Mehrheit der auftretenden Figuren hat keinen Eigennamen, gekennzeichnet werden sie durch ihren Stand. König, Müllerin, jüngster Sohn, Königin. Auch ihr Äußeres wird selten genauer beschrieben, standardisiertes »schön« oder »wunderschön«, oft in Verbindung mit langem Goldhaar muss genügen.

Es liegt etwas Urtümliches, Tiefes, Weises in den Geschichten, wird Märchen häufig nachgesagt, etwas Echtes, Wahres. Wahre Liebe, z.B., wahre Treue, Elternliebe, Kindesliebe, Geduld und Dulden. Furcht und Schrecken, Leid und Entsetzen, Seite an Seite mit höchstem Glück. Tiefe Gefühle, die man gleich nachempfinden kann, so, wie die Geschichten erzählt werden. Man kann sich verlieren darin. Man sollte es nicht tun.

Das Weltbild, das dahinter zum Vorschein kommt, ist strikt manichäisch, erschreckend geradezu. In der Mehrheit der Geschichten kämpft ein Gut gegen ein Böse. Die Wertung ist von Anfang an verteilt, es gibt keinen Zweifel, dass Heldin oder Held gut und das Böse eben böse ist. Es gibt keine Grautöne, keine Schattierungen, keine Irrtümer. Die Welt besteht aus Licht und Finsternis. Da das Buch sich ausgesprochen an Kinder richtet, ist das denkerisch ein bisschen wenig, zumal im 21. Jahrhundert.

Sieht man genauer hin, so fällt eine Vorliebe für den Erwerb großer Reichtümer auf. Das ist einerseits erklärlich, da nicht wenige »Märchen« aus Kargheitsgesellschaften stammen, die auf die stets drohende Not mit dem Traum vom allseitigen Versorgtsein reagierten. Auf der anderen Seite finden diese Träume leider Niederschlag darin, dass es dem Helden zusteht, andere zu töten, um an deren Reichtümer zu gelangen. Legitimiert war das allein dadurch, dass der oder das jeweils andere per definitionem böse ist. Ein schlimmes Beispiel dafür ist die Geschichte von Sean Rhuad, der eben mal Riesen abschlachtet, die niemandem etwas getan haben, nur weil er etwas haben will, das sie besitzen.

Das sind insgesamt fragwürdige Vorstellungen, die eine unkritische Haltung gegenüber »dem Anderen« fördern und gegenüber der behaupteten Weisheit, Wahrheit und Poesie nur die Wahrheit und schroffe Prosa des rein Materiellen preisen. Das Wort Gold, als Farbton wie als Metall, taucht in den Märchentexten auffällig häufig auf. Zum materiellen Denken gehört auch, dass man einen möglichst hohen Stand anzustreben hat und überhaupt besteht die Welt vornehmlich aus Königen, Zaren, Prinzessinnen oder zumindest Adligen. Arbeit kommt nicht wirklich vor, will man nicht Totschlagen als solche sehen, oder höchstens als vorübergehende Schmach. Auch ein Standpunkt.

Dass die Rolle der auftretenden Frauengestalten eher einseitig ist und das Dasein der Frauen auf Ehe und Kinder gebären hinausläuft, muss man ohnehin voraussetzen. Das wurde bereits weidlich diskutiert, aber es soll dennoch deutlich darauf hingewiesen werden, dass das Frauenleben durch alle Jahrhunderte hindurch weit vielfältiger war, als diese(und andere)angeblichen Volksmärchen erzählen.

Ehrliche Worte

Sucht man ehrliche Worte, und nicht magisch verbrämte Ideologie, findet man sie in der Auswahl der Gedichte, Rätsel und Sprüche und, nicht zu vergessen, den Bildern, die eine eigene Sprache entwickeln. Etwas schade ist es, dass vornehmlich deutschsprachige Lyrikerinnen und Lyriker ausgesucht wurden. Die Ausnahme stammt aus Japan. Ein Frühlingsgedicht vom Mayröcker würde man gewiss nicht erwarten in einem so traditionell gefassten Buch, aber es steht da in seiner ganzen Pracht. Überraschend Gutes von James Krüss, Morgenstern mit nicht dem stets Zitierten, Rückert, Guggenmoos und Christine Busta lassen eine kritische Vorleserin frische Luft schöpfen, wenn ihr das Verzopfte der Geschichten bei aller bezaubernden Märchenhaftigkeit dann doch den Atem verschlagen hat.

Die Illustrationen sind ganz auf Harmonie angelegt. Rundungen herrschen vor, Gerundetes. Beschützt, umhegt fühlt man sich, selbst wenn ein runder Rücken für einmal Gedrücktsein oder gar Unglück signalisiert. Am Ende ist man getröstet, so schlimm kann keine Gefahr sein, nicht einmal der Leibhaftige in der Unterwelt, der mitsamt seinem schauerlichen Reich natürlich auch seinen großen Auftritt bekommt – und kläglich unterliegt. Gleich ob Landschaftsbilder, Ausschnitte aus Innenräumen, menschliche oder Tierfiguren, hier herrscht strikter Realismus. Durch das leichte Verwischen des Strichs und geschickt eingesetzte sparsamste Schattierungen gewinnen die Bilder zugleich etwas Träumerisches, Traumverlorenes. Das ist eine unverzichtbare Facette des Märchens.

Wer diesen Märchenband wählt, hat ein wunderbar ausgestattetes, von der Herausgeberin gründlich durchdachtes Buch in Händen. Sein Inhalt allerdings sollte Kindern nicht ungeprüft vorgesetzt werden. Er ist nicht unbedingt ein ideales Erbe für ein Europa im 21. Jahrhundert.

| MAGALI HEIẞLER

Titelangaben
Dagmar Fink: Der Zauberspiegel. Märchen und Gedichte aus Europa
Illustriert von Bettina Stietencron
(2018 Neuausgabe von ›Der goldene Dragoner‹)
Stuttgart: Freies Geistesleben 2018
309 Seiten, 19 Euro
Alle Altersgruppen, ab 6 Jahren
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