Bühne | Rock-Musical: Hedwig and the Angry Inch
Wenn eine Rock-Chanteuse namens Hedwig auf ihrer »Welttournee« immer wieder mit der eigenen, äußerst unliebsamen Vergangenheit konfrontiert wird, kann es durchaus passieren, dass sie selbst in ihren Grundfesten erschüttert wird. Und der Zuschauer gleich mit.
In diesem Musical werden nicht nur Musikstile gemixt, nein, es geht auch den Gefühlen des Publikums an den Kragen.
ANNA NOAH ist gespannt, ob Hedwig für das nächste neue Leben bereit ist.
»Sugardaddy, bring it home!«
Hansel Schmidt wächst in Ost-Berlin auf, hört Musik im Backofen der viel zu kleinen Wohnung, schnuppert an der Grenze McDonalds-Luft und hat ein schwieriges Verhältnis zu seiner Mutter. An der Uni läuft auch alles schief. Er fühlt sich unverstanden. Freiheit, fragt sich Hansel – was ist das?
Schließlich trifft er eines Tages den amerikanischen GI Luther, der ihn mit Markenprodukten überredet, mit ihm in die USA zu ziehen. Hansel schmeckt sie plötzlich in jedem Gummibären, die süße Freiheit. Der Amerikaner stellt jedoch eine Bedingung: Hansel muss sich vor der Ausreise einer Geschlechtsangleichung unterziehen. Absurd! Doch was tut man nicht alles für ein bisschen Unabhängigkeit – oder doch Anerkennung? Es kommt, wie es kommen musste – alles geht schief. Der Arzt hat gepfuscht und von seinem Penis bleibt ihm lediglich ein »Angry Inch«. Sein Schutzengel muss während der Operation eingeschlafen sein, ist sich Hansel, der nun Hedwig genannt wird, sicher.
Der GI nimmt seine Hedwig zwar mit in die USA, nutzt sie aber nur aus. Später erlebt sie Ähnliches mit einem weiteren Amerikaner namens Tommy Gnosis. Verlassen und gedemütigt, weder Mann, noch Frau sitzt sie zum Mauerfall mittellos in ihrem Wohncontainer.
Auf einer anderen Ebene sieht das Publikum einen Menschen auf der Bühne, der von Anfang an nach der Liebe und dem Sinn des Lebens sucht.
Abgeschminkt
Das Publikum folgt Hedwig in die USA, erkennt, dass sie sich hinter ihrem Make-Up versteckt. Wenn sie die Perücke aufzieht, ist sie eine Diva. Dem Rest von Hansel in ihr erscheint es immer noch merkwürdig, doch für den größeren Teil – Hedwig – ist es Routine geworden. Aber wehe, sie legt die falschen Haare ab. Dann kommen die Geister der Nacht. Sie verhöhnen Hedwig, fahren rückwärts mit ihrem Gedankenkarussell. Hedwig weiß, dass sie keine Leichtigkeit besitzt, so wie andere Frauen. Sie schaut oft zurück, wo sie herkam und erkennt, dass sie sich selbst mitgenommen hat. Und dass es egal ist, ob sie Hansel oder Hedwig heißt. Oder ob sie in Ost-Berlin oder der USA wohnt. Der GI sollte ihr Weg in die Freiheit sein. Doch dieser wurde viel zu schnell versperrt. War sie etwa selbst schuld?
»Inside I’m hollowed out
Outside’s a paper shroud
And all the rest’s illusion«
Schmerzhaft gesteht sich Hansel nach all den Jahren ein, dass die Operation ein großer Fehler war.
Zurück auf der Berliner Bühne sieht der Zuschauer sie mit ihrem Ehemann Yitzhak, einer ehemaligen Drag Queen aus Zagreb. Als Backgroundsänger vergöttert er Hedwig, doch er ist auch aggressiv. Und verletzt. Manchmal stiehlt er ihr die Show. Dann geht’s rund.
Der Kampf gegen Windmühlen
Michael Kargus vermittelt in einer der anspruchsvollsten Rollen überhaupt jegliche Gefühle mit einer selten erlebten Heftigkeit. Müdigkeit, Wut, Optimismus – all das sammelt sich in Hedwigs Seele. Und all das spiegelt sich auf der Bühne wider. Gleichzeitig ist die Musik dazu derart auf den Punkt gebracht, dass der Zuschauer von Anfang bis Ende eintaucht. Dabei ist es egal, ob er ein Minikleid, enge Shorts oder gar nichts trägt. Er spielt Hedwig ohrenbetäubend laut, ist mit sich selbst nicht zimperlich – dafür unfassbar herausragend.
»You know you’re doing all right
So hold on to each other
You gotta hold on tonight«
Wohlige Schauer, die mehrfach über den Rücken laufen, sind bei diesem Musical inklusive.
Trotzdem ist die Aufführung keine »One Woman with an Angry Inch Show«. Das zeigt sich immer mal zwischendurch in kleineren Episoden mit Yitzhak oder der Band, besonders aber, als Hedwig nach ihrem Zusammenbruch am Ende zu sich selbst findet und ihrem Ehemann die Perücke aufsetzt. Die letzten Strophen im Scheinwerferlicht gehören damit ihm allein.
Auch das Publikum erkennt etwas an diesem Abend und geht mit einer wichtigen Botschaft nach Hause: Die Liebe in deiner Seele weiß, dass du vollendet bist.
| ANNA NOAH
| FOTOS: AGNES WIENER, NIKLAS WAGNER
Showangaben
Hedwig and the Angry Inch (offMusical)
Darsteller:
Hedwig – Michael Kargus;Yitzhak – Kathrin Hanak
Regie: Thomas Helmut Heep; Buch – John Cameron Mitchell
Musik und Gesangstexte – Stephen Trask
Deutsche Übersetzung – Rüdiger Bering und Wolfgang Böhmer