Menschen | Zum 65. Geburtstag der Nobelpreisträgerin Herta Müller
Es war eine handfeste Überraschung, als der Schriftstellerin Herta Müller im Oktober 2009 der Nobelpreis für Literatur zugesprochen wurde. »Sie zeichnet mittels der Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit«, hieß es damals in der Begründung des Stockholmer Komitees. Die seit vielen Jahren in Berlin lebende Schriftstellerin hat sich in ihren sprachlich ausgefeilten, bisweilen lyrisch anmutenden Werken immer wieder mit Verfolgung und Heimatlosigkeit, mit Umzügen und Neuanfängen beschäftigt. Die thematischen Eckpfeiler stammen aus ihrer eigenen bewegten Vita. Von PETER MOHR
Herta Müller, die zwölfte weibliche Literatur-Nobelpreisträgerin, wurde am 17. August 1953 in Nitzkydorf im deutschsprachigen rumänischen Banat geboren. Nach dem Abitur studierte sie an der Universität Timisoara (Temeswar) Germanistik und rumänische Literatur, arbeitete später als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik und verlor diesen Job 1979, nachdem sie sich geweigert hatte, mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate zusammenzuarbeiten. Mit Gelegenheitsjobs als Deutschlehrerin hielt sie sich materiell über Wasser – immer den Atem der Securiate-Spitzel im Nacken.
»Nur die Literatur gibt einem die Möglichkeit, aus der Geschichte den einzelnen Menschen herauszuheben. Sie erlangt ihre Wahrheit durch Erfindung, imaginiert sie durch Sprache«, hat Herta Müller vor einigen Jahren in einem Interview erklärt. Das Medium Sprache wurde für sie in der schwierigen Zeit im Banat eine Ersatz-Heimat – und ist es bis heute geblieben. Ihr erster Prosaband ›Niederungen‹ konnte nach einer wahren Odyssee durch die Zensurbehörden 1984 in seiner ursprünglichen Fassung in Deutschland erscheinen.
Ging es in ihrem Erstling, für den sie 1984 mit dem Aspekte-Literaturpreis des ZDF ausgezeichnet wurde, um die Rückständigkeit in der dörflichen Enklave des Banats und im zweiten Buch ›Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt‹ (1986) um eine Synthese aus lokalem Brauchtum und Historie, so stand in ihrem damals gefeierten, schmalen Band ›Barfüßiger Februar‹ (1987) das eigene Erleben im Mittelpunkt. Zentrales Thema war der Abschied von Rumänien, denn im Frühjahr 1987 war sie mit ihrem damaligen Ehemann (Schriftstellerkollege Richard Wagner) nach langwierigen Schikanen aus dem Banat nach West-Berlin übergesiedelt. »Mir ist es nicht schwergefallen von Rumänien wegzugehen. Es geht in Rumänien zur Zeit um das nackte Überleben. Von Kultur kann schon gar nicht mehr die Rede sein«, hatte sie nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik erklärt.
Trotz des ihr widerfahrenen Leids hat die Schriftstellerin nie zum polternden politischen Rundumschlag ausgeholt und sich nicht als Vorzeige-Dissidentin von den Medien vereinnahmen lassen. »Der Diktator ist ein alter Mann. Seit zwanzig Jahren überm Land. Der Vater aller Toten.« So lakonisch und doch treffend liest sich eines der wenigen konkreten politischen Statements in ›Barfüßiger Februar‹.
Diverse Gastprofessuren in Deutschland, England und in den USA sowie zahlreiche Literaturpreise erleichterten ihr den Neuanfang im Westen. Sie schrieb kontinuierlich, aber eher unspektakulär, auf hohem Niveau weiter. Es folgten die Bände ›Der Fuchs war damals schon der Jäger‹ (1992), ›Herztier‹ 1994), ›Heut wär ich mir lieber nicht begegnet‹ (1997), ›Im Haarknoten wohnt eine Dame‹ (2000) und ›Der König verneigt sich und tötet‹ (2004).
Der ganz große literarische Wurf ist Herta Müller eigentlich erst im Jahr der Nobelpreisverleihung gelungen – mit ihrem Roman ›Atemschaukel‹ (wie fast alle neueren Werke bei Carl Hanser erschienen). »Ohne Oskar Pastiors Details aus seinem Lageralltag hätte ich es nicht gekonnt«, erklärte Herta Müller über das Zustandekommen ihres bedeutendsten, tief unter die Haut gehenden Romans, dessen Handlung in einem sowjetischen Arbeitslager für Rumäniendeutsche angesiedelt ist. Der aus Siebenbürgen stammende Schriftsteller und Georg-Büchner-Preisträger Pastior (1927-2006) hat ein solches Lager nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs überlebt – ebenso Herta Müllers Mutter, die aber nicht die Kraft fand, über ihre Erlebnisse zu reden.
In krassem stilistischen Gegensatz zum geradezu bedrückenden Meisterwerk ›Atemschaukel‹ steht Herta Müllers letzter umfangreicherer Band „Vater telefoniert mit den Fliegen“ (2012), der 187 Wortcollagen beinhaltet, die mit leichter Hand aus Zeitungsschnipseln zusammengefügt sind. Spielerische Heiterkeit und radikaler Ernst, kunstvolle Sprachakrobatik und existenzieller Überlebenskampf: bei Herta Müller keine Widersprüche, sondern Ausdruck ihres künstlerischen Facettenreichtums.
Internet, Google, Facebook – all das mag Herta Müller nicht. »Ich möchte einen Menschen sehen, mit ihm sprechen, seine Stimme und seine Meinung hören. Nur die körperliche Anwesenheit eines Menschen nützt mir gegen die Einsamkeit.«
Zum 65. Geburtstag der Nobelpreisträgerin widmet ihr die Stiftung Schloss Neuhardenberg eine Kunstausstellung. Unter dem Titel ›Zeit ist ein spitzer Kreis‹ werden mehr als 200 poetische Collagen der Schriftstellerin gezeigt. Die Schau wird am 16. September eröffnet und ist bis zum 2. Dezember auf Schloss Neuhardenberg im Osten Brandenburgs zu sehen.
| PETER MOHR
| TITELFOTO: Heike Huslage-Koch, Herta Müller Literaturfest München 2016, Crop, CC BY-SA 4.0
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| Herta Müller: Lebensangst und Worthunger in TITEL kulturmagazin