/

Wechseln wie ein getragenes Hemd

Kulturbuch | Markus Metz, Georg Seeßlen: Kapitalistischer (Sur)realismus

Bei Georg Seeßlen bzw. Markus Metz und Georg Seeßlen entsteht stets der Eindruck, sie hätten eine Überfülle mitzuteilen. Sie präsentieren eine bewundernswerte Vielfalt an Fakten, drängen den Leser gewaltig und sind längst drei Schritte weiter, jedoch darf man sich keinesfalls unter Streß setzen lassen. Von WOLF SENFF

Kapitalistischer SurrealismusAls ›real‹ und ›surreal‹ charakterisieren sie die beiden dominierenden kulturellen Strömungen, die das hinter uns liegende Vierteljahrhundert neoliberaler Politik prägen. Nach dem dem Ende der sozialen Marktwirtschaft in Europa in den achtziger Jahren sei auch der kulturelle Konsens aufgekündigt worden.

Savoir vivre

›Luxese‹ umschreibt das Bild der sich neu abzeichnenden surrealen Persönlichkeit, die ein Segment ihrer Biographie in luxuriösen Kontexten gestalte, etwa in Urlauben auf Kreuzfahrten u. ä., und ein anderes Segment, möglicherweise aus finanziellen Gründen, hochgradig diszipliniert oder asketisch.

Es gehe nur noch um ›Lebensstil‹, vulgo: Selbstverwirklichung, für die das Marketing reichhaltige Angebote bereithalte, und zwar – im Segment der moralisierenden Werbung, auch: Greenwashing – bis hin zum Tierschutz, zu Rücksicht auf das Klima und zur Hilfe für Flüchtlinge und Hungernde.

Alles wird kompatibel

Das Leben werde als eine Inszenierung angelegt, Biographien seien nicht mehr linear, sondern seien gebrochen, Mosaike, Patchwork. Der neoliberale Charakter, surreal gebürstet, kaufe sich seine Identität, indem er Waren oder Dienstleistungen erwerbe, die ihm diese Identität verschaffen, sei es das Styling als Hipster, sei es der gerade trendgerechte kulinarische Hype, irgendwie arrangiere sich das letztlich zueinander, einerlei, auch Waren aus Ein-Euro-Läden seien kompatibel, für Phantasie und Beliebigkeit seine keine Grenzen gesetzt. Sharing Economy, Recyclingmode, Retrolook werden als Erscheinungen des späten Kapitalismus klassifiziert.

Ob letztlich die reale oder die surreale Strömung durchsetzt, bleibt offen. Der kapitalistische Realist halte sich für eine reife Persönlichkeit und hoffe insgeheim auf eine Rückkehr zu sozialer Verantwortung nd Umweltverträglichkeit.

Obszönität des Reichtums

Die surreale Strömung pflege die Kunst, sich zu erfinden, oder jemand vermarkte sich selbst und werde womöglich, carpe diem, in Windeseile zu Prominenz der Kategorie A, B oder C in TV und auf Unternehmenspartys, und sei es für wenige Wochen. Wie gewonnen, so zerronnen.

Wir finden IKEA-mäßig einen breit gestreuten kulturellen Einheitsgeschmack, den ein strategisch betriebenes Marketing auf die Identifikation mit Marken und Waren hin geprägt habe. Metz und Seeßlen sprechen folglich von einer um sich greifenden generellen moralischen Verelendung der Bevölkerung. Davon seien die Schönen und Superreichen keineswegs ausgenommen, deren Kultur überdies längst mit der Gangsterkultur verschmolzen sei, und Metz und Seeßlen beschreiben an zahllosen Beispielen die Obszönität jenes Reichtums.

Attitude der Beliebigkeit

Kultur sei im Hinblick auf soziale Kontextualisierung ununterscheidbar geworden. Die gesellschaftlichen Klassen würden sich nicht länger auch kulturell abbilden, sondern sie müßten ökonomisch und politisch begründet werden.

Im wesentlichen beschreiben Markus Metz und Georg Seeßlen höchst detailverliebt die beiden zentralen und weitgehend parallelen kulturellen Strömungen, die seit den neunziger Jahren die zuvor dominierende bürgerliche Kultur eines machtvollen Mittelstands abgelöst haben, und zwar zeitgleich mit dem Einsetzen der globalen Ausbreitung des ökonomischen Neoliberalismus.

Beliebigkeit

So ganz neu ist der surrealistische Trend nicht, er setzt Traditionen von – wir erinnern an Oscar Wilde u.a. – Dandyismus, von Dadaismus und selbstverständlich des künstlerischen Surrealismus fort, die zu jeweils ihrer Zeit als provokative Kräfte in einem machtbewussten Bürgertum verankert waren.

Diese Konstellation ist heute anders, und die jeweilig zur Schau getragene künstlerische Haltung, so konstatieren Metz und Seeßlen, sei zu einer oberflächlichen, beliebigen Attitude verkommen, die wie ein getragenes Hemd gewechselt werde.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Markus Metz, Georg Seeßlen: Kapitalistischer (Sur)realismus
Neoliberalismus als Ästhetik
Berlin: Bertz + Fischer 2018
300 Seiten, 18 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Häppchen oder am Stück

Nächster Artikel

Geballte Verhängnisse

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Ein Kimono ist auch bloß ein Dirndl

Kulturbuch | Matthias Politycki: Schrecklich schön und weit und wild Verreisen ist zu einem Volkssport geworden. Sobald man aus der Haustür tritt, sieht man Menschen, die zumindest einen Rollkoffer hinter sich herziehen. Auch Matthias Politycki ist viel herumgekommen und fand es ›Schrecklich schön und weit und wild‹. Seine Kulturgeschichte des modernen Reisens beschäftigt sich mit der Frage: Was treibt uns eigentlich in die Ferne? INGEBORG JAISER folgt ihm gemütlich vom heimischen Sofa aus.

The Life and Death of a Superstar

Kulturbuch | Michael Engelhard: Ice Bear: The Cultural History of an Arctic Icon (Auszug) Even in death, Knut arguably has the distinction of being the world’s most prominent polar bear. “It cannot be that the little Knut is completely forgotten,” said a woman who spent $5,000 on a public Knut memorial marker—one of several, in a city that teems with monuments commemorating two World Wars, the Holocaust, and the Iron Curtain. By MICHAEL ENGELHARD

Villa Kunterbunt

Kulturbuch | Philip Jodidio: 100 Contemporary Houses Individuelle Wohnhäuser seien die Quintessenz der modernen Architektur. Mit dieser Kernaussage setzt Phililp Jodidio die Messlatte für sein zweibändiges Werk über 100 außergewöhnliche und visionäre Exemplare des modernen Eigenheims hoch an – und auf architektonischer Ebene niedrig: als Fundament. In zwei Bänden, deren erster 351 Seiten und der zweite 336 Seiten umfasst, führt der Autor durch die repräsentativen Residenzen des Hochglanzbandes. Von LIDA BACH

Herr Kant blickt streng auf Österreich

Kulturbuch | Beatrix Müller-Kampel: Hanswurst, Bernardon, Kasperl

Das Buch von Beatrix Müller-Kampel lesen, heißt ein Schlachtfeld betreten. Wir wohnen der Hinrichtung von Hanswurst, Bernardon und schließlich des schon weitgehend gezähmten Kasperle bei. Von JÖRG DREWS

Die Inseln der Unsterblichen

Kulturbuch | Yoko Kawaguchi: Japanische Zen-Gärten In ihrer Reduktion auf wenige, metaphorische Gestaltungselemente sind sie schlicht und beeindruckend zugleich: Japanische Zen-Gärten. Die Autorin Yoko Kawaguchi und der Fotograf Alex Ramsay präsentieren einen traumhaft schönen, höchst informativen Bildband zu Geschichte, Entstehung und Bedeutung dieser Anlagen. Von INGEBORG JAISER