Ein Flunsch zieht nach Westen

Comic | Lincoln – 1. Auf Teufel komm raus

Family Business: Mit der Comicreihe ›Lincoln‹, deren deutsche Ausgabe eben bei Schreiber & Leser erscheint, schaffen Olivier Jouvray, Jérome Jouvray und Anne-Claire Jouvray einen saukomischen Western-Bastard, der im freien Staub zwischen William Shakespeare, Sergio Leone, Lewis Trondheim und Aike Arndt siedelt. Von CHRISTIAN NEUBERT
 
LincolnWer im Wilden Westen Geschichte schreiben möchte, muss eines besonders gut können: Schnell ziehen. Lincoln kann man diese Fähigkeit nicht zusprechen. Das einzige, was er zieht wie kein Zweiter, ist ein Flunsch. Jenen Gesichtsausdruck, den der Duden als verdrießlich verzogenen Mund kennt. Lincoln steht der Flunsch generell ins Gesicht geschrieben. Schon als Kind verlieh er ihm den unnachahmlichen Ausdruck des übellaunigen, desinteressierten, schwer zu begeisternden Herumtreibers. Und als man ihn schließlich aus der Stadt jagt, als neunzehnjährigen Waisenknaben, umschmeichelt der Flunsch seine Lippen besonders wütend.

Als heimatloser Desperado gibt Lincoln eine Figur wie der typische namenlose Antiheld der Spaghetti-Western ab, nur eben 10-20 Jahre jünger. Für die großen verbrecherischen Ambitionen mangelt es ihm allerdings an Enthusiasmus – zumal es mit seinen Revolverhelden-Fähigkeiten nicht weit her ist. Sein unfreiwilliges Gesetzlosendasein erschöpft sich daher im Über-Wasser-Halten, was alleine schon ein Verbrechen ist, angesichts der Skrupellosigkeit, die er dabei an den Tag legt. Lincoln steckt Häuser in Brand, um Diebstähle zu verüben, plündert Klöster für eine Mahlzeit, geht Dynamitfischen. Den unnötigen, vollkommen unverhältnismäßigen Kollateralschäden begegnet er immer gleich: Mit dem Flunsch, natürlich.

Hängt ihn höher

Der einzige Ort, an dem der Flunsch ihn verlässt, ist der Galgen. Als er gehängt wird und sich die Schlinge um seinen Hals schließt, weicht der Flunsch einem Gesicht des Todes, der Mimik des Todeskampfes. Aber keine Bange: Lincoln stirbt nicht. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits unsterblich. Denn zwölf Seiten zuvor hat Gott ihm die Unsterblichkeit geschenkt. Die und eine Satte Portion Dollars, da hat der Allmächtige sich nicht lumpen lassen. Warum? Als eine Art Experiment, solange man Gott glauben kann. Zumindest hat er es dem Teufel so erklärt, als der zwischendurch nachgefragt hat, was er denn da so treibt, mit diesem Lincoln.

Ob er etwa doch einen Westernhelden aus Lincoln herauskitzeln will? Einen wie die prominenten Vertreter des Italo-Kinos der Sechziger, die zwar vorgeben, stets in die eigene Tasche zu wirtschaften, sich dabei dann aber doch auf die Seite der Guten stellen? Oder ist Lincoln, eindeutig eine Frucht grob befleckter Empfängnis, gar (s)ein Sohn? Man weiß es zunächst nicht, Gott hält sich erst mal bedeckt. Dennoch liegt ihm viel daran, Lincoln ein Zirkeltraining an wildwestgemäßen Leibesertüchtigungen aufzuerlegen. Mit Schießübungen, Armdrücken, Voltigieren und Yoga. Weil am Galgen enden, da ist sich Lincoln dann doch mal mit etwas in seinem Leben sicher, will er nicht noch mal. Das war schon unangenehm.

Lincoln, der antriebslose Outlaw mit dem Flunsch. Gott, ein kleiner bärtiger Mann mit Poncho und großem Hut, der seine Rachegotteigenschaften bequemerweise über Dritte ausleben möchte. Und dann schließlich der Teufel, der Gott schon mal ungefragt ne Kippe dreht und auch mal Geld leiht, wenn´s denn sein muss: Willkommen im saukomischen Western-Bastard des französischen Jouvray-Clans!

Open Range

Szenarist Olivier Jouvray, Zeichner Jérome Jouvray und Kolorist Anne-Claire Jouvray siedeln mit ihrer Reihe im weiten, freien Comic-Land zwischen William Shakespeare, Sergio Leone, Lewis Trondheim und Aike Arndt. Der erste Band der deutschsprachigen Ausgabe, die im vergangenen Herbst bei Schreiber & Leser erschien, entfacht auf jeden Fall schon mal das Feuer einer lodernden Binge-Reading-Laune.

Lincoln
Lincoln – Leseprobe

Bestimmt finden die Jouvrays noch viele weitere Winkel in ihrem monochromen Westen, in denen sie ihre Lachsalven so herrlich treffsicher aus der Hüfte ballern. Im Frankreich hat es die Reihe inzwischen schon auf neun Bände geschafft. Der zweite deutschsprachige Band erscheint noch diesen Januar, der dritte kommt im Mai heraus.

| CHRISTIAN NEUBERT

Titelangaben 
Text: Olivier Jouvray / Zeichnungen: Jerome Jouvray & Anne-Claire Jouvray: Lincoln – 1. Auf Teufel komm raus
Aus dem Französischn von Resel Rebiersch
Hamburg: Schreiber & Leser 2018
48 Seiten, 14,95 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Skrupellose Karrieristen gibt es in jeder Zeit

Nächster Artikel

Drei Gedichte

Weitere Artikel der Kategorie »Comic«

Die Zauberin, der Feuerwehrmann und das Leben dazwischen

Comics | Dominique Goblet: So tun als ob heißt lügen Mit ›So tun als ob heißt lügen‹ liegt beim Avant Verlag ein außergewöhnlicher autobiographischer Comic neu in deutscher Übersetzung vor. Der belgischen Comic-Künstlerin Dominique Goblet gelingt damit ein intimes Zeugnis, das viel preisgibt, ohne geschwätzig zu sein. Indem er einen auf der Gefühlsebene packt. Und dabei blendend aussieht. Von CHRISTIAN NEUBERT

Cancer and the City

Comic | Marisa Acocella Marchetto: Cancer Woman Marisa Acocella Marchetto hat ihren Kampf gegen den Brustkrebs gewonnen – und den Leidensweg dorthin so charmant und witzig dokumentiert, dass FRANZISKA BECHTOLD Cancer Woman: Eine wahre Geschichte kaum aus der Hand legen konnte.

Der Mörder als ein Klotz im Stein

Comic | Lucas Harari: Der Magnet In ›Der Magnet‹ beschwört der junge französische Comic-Künstler Lucas Harari in seiner ersten längeren Erzählung den Geist der berühmten Therme Vals. Er erhebt den Bau zur Hauptfigur – und lässt ihn mörderische Absichten verfolgen, festgehalten in der klar umrissenen Optik der Ligne Claire. CHRISTIAN NEUBERT tauchte in den Comic ein.

Ein alternatives Deutschland

Comic | Internationaler Comic Salon Erlangen 2014: Auf der Suche nach dem deutschen Genrecomic, Teil 3 Zeichner Felix Mertikat und Autorin Verena Klinke stellten in Erlangen den mittlerweile dritten Band ihrer eigenwilligen, atmosphärischen »Steampunk«-Erzählung ›Steam Noir‹ vor, unter anderem mit einer multimedialen Lesung und einer kleinen Ausstellung in einer Scheune, die zu finden den Autor dieser Zeilen drei Anläufe gekostet hat.