Comic | François Schuiten (Zeichnungen) / Benoît Peeters (Text): Das schräge Mädchen
Mit ›Das schräge Mädchen‹ ist eine weitere faszinierende, wunderbar aussehende Episode aus Schuitens und Peeters‘ Comicreihe ›Die geheimnisvollen Städte‹ in deutscher Sprache erhältlich. CHRISTIAN NEUBERT hat sich den Band vorgenommen.
Der belgische Zeichner François Schuiten und der französische Autor Benoît Peeters gehören zu den großen Architekten der Comicgeschichte. Seit 1983 entwerfen sie ›Die geheimnisvollen Städte‹. Auf dem Papier ihrer Comicbände haben sie eine ganze Welt geschaffen, eine lebendige Welt, die atmet, wächst, gedeiht, vergeht und entsteht. Sie existiert als eine Art Abbild unserer eigenen Welt, gehorcht ähnlichen Gesetzen. Der Stand ihrer technischen Entwicklung und der modischen Strömungen entspricht in etwa der, des viktorianischen Zeitalters, angereichert mit fantastischen Elementen, wie es im literarischen Genre des Steampunks populär ist und für das die Comicreihe definitiv prägend ist.
Dabei geht es Schuiten und Peeters gar nicht so sehr um das fantastische Potenzial ihrer Reihe, sondern vielmehr um die weltlichen Fragen, die sie an diese knüpfen. Ihre opulenten, klaren Strukturen gehorchenden Kulissen stehen im Kontrast zu den Figuren, die sich vor ihnen zu behaupten versuchen. Sie irren durch die steil herabfallenden Häuserschluchten, deren irritierende Winkel die Stimmung trüben können. Und das Auge des Lesers. Die optischen Täuschungen korrespondieren dabei mit den Handlungen der lose verbundenen Einzelbände, deren Protagonisten sich in den Geschicken der Welt zu verlieren drohen.
Gefangen in den Häuserschluchten
So ergeht es dann auch der jungen Mary von Rathen. die in dem neu bei Schreiber & Leser veröffentlichten Band ›Das schräge Mädchen‹ einen Ausflug in einen Freizeitpark unternimmt. Ihre Eltern begegnen dieser Möglichkeit der Zerstreuung sehr skeptisch, aber Mary ist sofort Feuer und Flamme. Voller Begeisterung fährt sie mit der Achterbahn. Bis sie daraufhin, keiner weiß, warum, buchstäblich schräg ist: Anstatt gerade, im rechten Winkel vom Boden aufzuragen, beschreibt ihre Körperhaltung fortan einen merkwürdigen, eigentlich unmöglichen Winkel.
Klar macht sie das in doppelter Hinsicht zu einem schrägen Mädchen: Aufgrund ihrer Körperhaltung wird sie als anormal empfunden – was sie natürlich zur Außenseiterin macht. Für den Arzt hat sie sich einen Trick einfallen lassen, um die Schule zu schwänzen, ihre ratlosen Eltern schicken sie aufs Internat. Sie glauben, dass sie sich dort anpassen wird, zur Normalität zurück gelangt. Stattdessen erfährt sie Abgrenzung. Die anderen Kinder sind gemein zu ihr, und auch die Lehrer bieten ihr keine Unterstützung. Im Gegenteil: Ihr Schrägsein, ihre vermeintliche Auflehnung wird mit Strafen geahndet.
Die Konsequenz: Mary flieht. Doch auch in ihrer frisch gewonnenen Freiheit bleibt sie Außenseiterin. Niemand will »das schräge Mädchen« um sich haben. Sie landet schließlich bei einem Zirkus, wo sie zur Attraktion wird. Für die sensationsgeilen Zuschauer wird sie zum Freak unter Freaks, zum obskuren Objekt, über das gestaunt und gelacht wird. Natürlich findet sie an diesem Ort, der das Abnorme feiert und verkauft, nicht in ihr Leben zurück. Linderung, so heißt es, könne ihr eventuell der Astronom Axel Wappendorf versprechen. Mit nichts außer dieser vagen Hoffnung im Gepäck macht sie sich auf dem Weg zu ihm. Seine Forschungen versprechen tatsächlich einen Erfolg, auch wenn sie weit weg, in eine ganz andere Richtung, weisen …
Wer biegt das wieder gerade?
So weit, so schräg. Geerdet wird die fantastische Geschichte durch das Schicksal eines mit sich hadernden Künstlers, der – obwohl er aus Paris stammt und somit unserem Planeten zugehörig ist – eng an das Schicksal von Mary und Wappendorf geknüpft ist. Seine Episoden sind als schwarz-weißer Fotocomic entworfen: Anstatt filigraner Tuschezeichnungen illustrieren Fotografien das Geschehen, was in die Wirklichkeit verweist, oder besser: In unsere Wirklichkeit. Realität und Fiktion verwischen also.
Dieser Eindruck wird auch durch Schuitens umwerfende Zeichnungen genährt. Er gestaltet seine atemberaubenden Bilderwelten mit architektonischer Präzision. Die retrofuturistische Anmut seiner Stadtkulissen ist fest in der Art déco und im Jugendstil verankert, was »die geheimnisvollen Städte« zeitlos erscheinen lässt. Sich sattzusehen geht hier schlichtweg nicht. Kombiniert mit den raffinierten Stories, deren surrealer Anstrich Vergleiche mit dem Comickünstler Marc-Antoine Mathieu zulässt, schafft das Meisterwerke. Und ein solches ist ›Das schräge Mädchen‹. Hier kann man bedenkenlos zuschlagen. Nur muss man wohl in Kauf nehmen, dass man daraufhin auch die anderen Bände der Reihe erschließen will.
Titelangaben
François Schuiten (Zeichnungen) / Benoît Peeters (Text): Das schräge Mädchen
Aus dem Französischen von Resel Rebiersch
Hamburg: Schreiber & Leser 2017
168 Seiten, 27,80 Euro
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| Wikipedia-Eintrag zu ›Die geheimnisvollen Städte‹