Textfeld | Christian Saalberg: Zwei Gedichte
IM WEISSEN HOF vor der Treppe zum Schloß stößt
man auf eine hohle Gestalt, einen Mann, der
Das ewige Leben verschenkt.
Seine Erinnerungen sind lückenhaft, erfüllt von
versäumten Augenblicken, die er vor sich
Ausbreitet wie eine Liebe, die auf morgen wartet,
Leichte Existenzen hüpfen über das Pflaster, bis
eine Erleuchtung sie hochhebt und in den
Wipfeln verschwinden läßt.
Der Kastellan beschließt, den Klang der Glocke
zu verändern, um die Steine zu übertönen.
Immergrün, das über die Balustrade fließt.
Der Tod ist ein Gedanke, der vergessen hat, was er
denkt.
Ich sehe eine Statue, die stehengeblieben ist, um
mich zu betrachten.
IM DÄMMERLICHT nehme ich mir die Hand
von der Stirn, Stütze der Erinnerung,
Um die vergessenen Zimmer nicht zu stören,
die wie die Statuen nur den Wunsch haben,
Alleingelassen zu werden.
Ein weißer Krug, die Hand in der Hüfte, Tassen,
von Tauben umringt, ein Schrank, der wie das
Schwarze Meer seine Seele den Aufrührern
überläßt.
Das ist schon etwas mehr als das übliche
Durcheinander, das bei neununddreißig Grad
Einsetzt.
Es hat etwas zu bedeuten.
Nur zu, weiter so!
| CHRISTIAN SAALBERG
Christian Saalberg (1926-2006) war zunächst als Rechtsanwalt und Notar tätig. Seit 1992 lebte er als freier Schriftsteller in Kronshagen (Schleswig-Holstein), er war Mitglied im PEN-Club Deutschland und Österreich und erhielt für sein Werk, das mehr als zwanzig Lyrikbände umfasst, diverse Preise und Ehrungen.
Titelangaben
Christian Saalberg: Hier wohnt keiner (2003)
© Viola Rusche