Scratchy archive tapes and empathic accordions

Musik | Folkdays… progressiv-hynotisch, volksnah-theatralisch: Anne-Mari Kavimäki

Akkordeon? Unterbrechungs-Aerophone, Handzuginstrumente, heißen auch Handharmonika, Ziehharmonika, Handklavier, Ziehorgel, Handorgel, Quetschn, Ziach, Schifferklavier, Maurerklavier, besser genannt Konzertina, Bandoneon, Diatonische. Oder geringschätzig Quetschkommode, Heimatluftkompressor, Tretschrank. Von TINA KAROLINA STAUNER

Von der alten Sheng über Magic Organa bis zum modernen Akkorden geht ein weiter Kulturweg. Auch bis in die Region Suistamo in Karelien, wo der finnische Storryteller und Akkordeonist Ilja Kotikallio bis 1961 lebte, den Anne-Mari Kavimäki aus Archiven der Sibelius Akademi in Helsinki holte.

In der karelischen Folklore finden sich nicht nur idyllische Familienmusikalben sondern auch Geschichten von Krieg, Zerstörung und Vertreibung – »Wunden der Geschichte«. An der Grenze zu Russland.

Mit ›Ilja‹ grub Kavimäki die 40er und 50er Jahre einer fast »verschütteten Tradition« aus. Die introspektiv nachdenklich und exaltiert tanzwütig wirken kann. »Das Suistamo ist inzwischen für mich keine Landschaft mehr, sondern Seelenzustand«, sagt die Musikerin. Und es ist bei ihr zudem Studienstück einer 4-teiligen multimedialen Doktorarbeit.

Neben Feldaufnahmen der vermeintlichen Stille der Natur im Suistamo, historischen Radioaufnahmen und Archivaufnahmen der Stimme Ilja Kotikallios setzt Anne-Mari Kivimäki Geige, Leier, Klarinette, Kontrabass, Harmonium, Percussion-Instrumente und die Kantele ein mit zwei Handvoll Mitspielern. In Neuinterpretationen von Kriegsliedern aus dem kalten Winter 1940. Und dem Akkordeon als Zentrum. Auch für dunkle Stunden des Tanzes.

Die Finnin hat anderslautend mit der Tänzerin Reetta-Kaisa Illes und dem Ensemble Puhti noch andersfunkelnde Tänze in ihrem »Laboratory of Tradition«: »…I have journeyed from the bushes of Suistamo via the smoke-sauna of Kinnermäki to the clubs of Petrozavodsk….I also had the opportunity to create a dystopian comedy in the genre of romantic horror…archival recordings, trips to Karelia, a rugged sound, history, mental images, longing, and the people who I’ve worked with…«

Akkordeon? Wird so am Rande wahrgenommen in der Volksmusik. Anne-Mari Kivimäki setzt das weltweit verbreitete, aber etwas beiläufige Instrument in den Mittelpunkt. Und sieht das Musikmaterial anziehend als Folkpoetry und »Hypnotic Ethno Music«.

Closed down and kept up: ›Hydroelectric power plants!‹

»…They are ethnic comedians. Wait, one’s a tap dancer, too. Well, some kind of dancer, maybe something ethnic. I can’t tell…« (Roots World)
›Ilja‹ hatte das schwerlastige Vorgängeralbum ›Lakkautettu Kylä‹ (›A Closed Down Village‹) mit Suistamo-Thematik. Kivimäki erreichte 2015 Folk Music Album of the Year of Finland, Number 10 of World Music European Charts und 2016 den Deutschen Schallplattenpreis.

Das geschichtsträchtige Recherchieren, Studieren und Musizieren der Nordländerin wird also honoriert. Zum Ausgleich und wie als Gegenpol gibt es Kivimäkis ausgelassenes Musikprojekt Suistamon Sähko mit dem Multiinstrumentalisten Eero Grundström aus Theater- und Zirkuskreisen und dem Jazz-und Rockbusiness. Und mit den Tänzern Reetta-Kaisa Iles und Tuomas Jutunen.

Die Künstler gaukeln mit Folk-Sound in Parallel-Worlds in Club-Beats, Hip-Hop, Rap, Techno-Tracks, Dance Floors. Und haben sich noch nicht zwischen allen Welten verloren. Sondern schaffen aus geschichtlichen Fundstücken und musikalischen Fantasiewelten ein eigenes Klanguniversum aus Social Folktradition, groovy Folktronica and Manic Moves. Finish Folk in motion.

Die Projekte von Anne-Mari Kivimäki sind auf Nordic Notes erschienen.

| TINA KAROLINA STAUNER

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Coming in and Coming out

Nächster Artikel

Episode vom Ausguck

Weitere Artikel der Kategorie »Platte«

Folkdays aren’t over…

Musik | Dori Freeman: Dori Freeman Country  Music mit Dori Freeman: »Fine, Fine, Fine«? Bringt mich zumindest zu diskursiven Anmerkungen zum Thema Country. Und da sind auch die Country-Rednecks und die Country-Outlaws… Freeman wer? Die mit American Roots Music, also Bluegrass, Folk, Blues, Rhythm and Blues, Rockabilly und  Old Country, in der Crooked Road-Region der Blue Ridge Mountains of Appalachia aufgewachsene Dori Freeman taucht nun offenbar auch in der Metropole New York auf, was die Studioarbeit ihres Debuts zeigt. Innerhalb von nur drei Tagen haben Teddy Thompson und Dori Freeman mit einigen Musikern alle Songs für eine CD eingespielt und

2017: The Albums Of The Year So Far

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world This week I have taken it upon myself to highlight, in no particular order, some of the albums released in the first half of 2017 which have forced me to crack a smile, and convinced me that getting out of bed isn’t a complete waste of time. By JOHN BITTLES

Raus aus dem Club

Musik | Toms Plattencheck Pupkulies & Rebecca sind kein Duo, sondern ein aus Janosch und Rebecca Blaul sowie Sepp Singwald bestehendes Trio, das sich bereits auf vier Alben zwischen Clubmusik auf der einen und Folk oder auch Chanson auf der anderen Seite austobte.

Folkdays aren’t over… Emily Barker

Musik | Emily Barker: The Toerag Sessions Emily Barker und The Toerag Sessions ist Songwriting pur ohne Beteiligung ihrer Bandprojekte The Red Clay Halo und Vena Portae: das neue Album bietet schlicht aber überzeugend Stimme, akustische Gitarre und Mundharmonika. TINA KAROLINA STAUNER hat es gehört

If I Think Of Love, I Think Of You: New Release Reviews

Music | Bittles’ Magazine: The music column from the end of the world With the autumn season firmly upon us most of us want nothing more than to lock our doors and peacefully hibernate for a month or two. What we need now are records made for listening to in the cosiness of your own home (or at least a club with a decent heating system). This week I will be raving about some new releases which make the perfect soundtrack for escaping the perils of the outside world. By JOHN BITTLES