Kindheitsparadies

Kinderbuch | Sonja Danowski: Das Theater von Nebenan

Mädchen spielen mit Puppen und Jungs mit Autos. Oder? Geschwister haben oft ganz eigene Arten miteinander zu spielen und lassen Rollenklischees hinter sich. So lange, bis sie gestört werden. Von ANDREA WANNER

Das Theater von NebenanPia und Pablo haben ein Puppentheater und jede Menge Figuren. In ihrem gemeinsamen Spiel lassen sie diese lebendig werden, lassen sie sprechen und in ganz unterschiedliche Rollen schlüpfen. Es ist, als ob die Zweisamkeit des Geschwisterpaares durch die vielen Figuren aufgebrochen würde und die Möglichkeiten des gemeinsamen Spiels dadurch ins Unendliche wüchsen.

So sind an diesem windigen Tag nicht nur Pia und Pablo draußen im Garten, sondern auch Gärtnerin Linda und Zwerg Zucchino. Linda fragt nach dem lauten Geräusch der Hummeln und Zucchino macht einen kleinen Hubschrauber aus, der in der Luft zu sehen ist. Und der gehört Ricky, einem etwa gleichaltrigen Jungen, der ins Nachbarhaus gezogen ist. Offen und freundlich gehen die Geschwister auf ihn zu, präsentieren nicht nur die beiden Puppen, mit denen sie gerade zugange sind, sondern in ganzes Figurenarsenal. Ricky ist angewidert. »Ihhh! Puppen!« ist seine Reaktion. Stattdessen lädt er Pablo ein, mit ihm den Hubschrauber zu reparieren, sein Unterseeboot und die vielen Fahrzeuge, die er besitzt, zu bewundern. Und Pablo geht mit.

Das scheint der Anfang vom Ende zu sein. Voller Begeisterung lässt Pablo auf die Welt der Jungs ein, die ihm im Nachbarhaus geboten wird. Auf Lindas vorsichtige Versuche, ihn zum gemeinsamen Spiel zu animieren, reagiert er nicht oder genervt. Bis Ricky krank wird? Jetzt kommt Pia mit einem Vorschlag, zu dem Pablo nicht nein sagen kann: eine Aufführung zum gesund werden für Ricky. Das PI-PA-Puppentheater präsentiert eine Spezialaufführung am offenen Fenster des Kranken mit Doktor Kamille, Koch Estragon und Gärtnerin Linda in den Hauptrollen. Aber das geht gründlich schief. Und jetzt?

Sonja Danowski ist eine vielfach ausgezeichnete Meisterin ihres Faches. Die Bilderbuchkünstlerin gestaltet lebensnahe, detailreiche Szenen auf den Doppelseiten, die ihre Akteure, samt der begleitenden Puppen, lebendig wirken lassen. Jede kleine Gefühlsregung, jede Handbewegung, jede Perspektive auf die Situation ist genauesten beobachtet und sorgfältig komponiert, ohne im Mindesten künstlich zu wirken.

Die Kinder und ihre Umgebung werden in gedämpften, warmen Farbtönen eingefangen, die den Szenen eine besondere Patina verleihen. Tatsächlich wird der Garten, in dem die Geschwister spielen, wie ein verwunschenes Paradies, in dem Pflanzen und Tiere zu Hause sind. Blüten, Beeren, Ranken und Zweige wuchern auf den Bildern, so naturgetreu, dass man nur staunt. Diesem ursprünglichen Draußen wird das Innen des Kinderzimmers von Ricky gegenübergestellt: eine von technischen Geräten dominierte Jungenwelt. Mehr Rollenklischee, als dieser neue Nachbarsjunge verkörpert, scheint kaum möglich.

Aber man kann sich irren. Auch wenn er gerade noch achtlos auf Gärtnerin Linda trat, besitzt auch er eine überraschende andere Seite. Behutsam zeigt Danowski auch diese Wandlung, die einem kleinen Wunder gleichkommt.

So nimmt das Cover mit seiner kunstvollen Blindprägung das Happy End schon vorweg: drei lächelnde Kinder, das dunkelhaarige Geschwisterpaar Pablo und Pia und daneben der blonde Ricky. Und alle Kinder haben eine Puppe in der Hand. Bühne frei für diese lächelnden Akteure und für dieses märchenhafte Bilderbuch, das ein bisschen aus der Zeit gefallen scheint. Aber Geschichten dürfen das. Und sie dürfen auch davon erzählen, wie sich Kinder aus Rollenzwängen befreien. Wenn es doch nur so einfach wäre.

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Sonja Danowski: Das Theater von Nebenan
Münster: Bohem 2019
56 Seiten, 22,95 Euro
Bilderbuch ab 3 Jahren
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