Goldgräber, Walfänger, indigene Stämme II

Wolf Senff: Goldgräber, Walfänger, indigene Stämme II

Wachstum und Fortschritt seien dämonische Kräfte, widersprach Gramner, ihr Geist sei destruktiv. Gemeinhin schlummern diese Dämonen, sagte er, man müsse in ihre Sphäre eindringen, sie müßten wachgerüttelt werden, und in der Moderne könne kein Zweifel daran bestehen, daß sie vollkommen lebendig seien. Doch einen Weg, der in die Irre führe, könne man verlassen. Du sprachst von Krankheiten?

McAlister lachte verlegen.

"MRSA" by silverfuture is licensed under CC BY-NC-SA 2.0Diabetes sei eine schwerwiegende Erkrankung, erklärte Gramner, zwar bilde sich in der Bauchspeicheldrüse genügend Insulin, jedoch würden die Zellen und das Gewebe, die den Zucker im Blut verwerten sollen, nicht reagieren. Die diesbezügliche Insulintherapie von Typ-2-Diabetikern führe zu Fettleibigkeit – hinzu komme das Risiko koronarer Herzerkrankung, Niereninsuffizienz, Minderung des Sehvermögens, Beeinträchtigungen des Nervensystems. Du verstehst? Ausgehendes zwanzigstes Jahrhundert. Diabetes sei unter indigenen Völkern der USA überproportional verbreitet.

Was das sei: Diabetes, protestierte McAlister. Sein Leben spiele im neunzehnten Jahrhundert, sagte er, die Umbrüche dieser Gegenwart seien ihm vertraut: die schnellen Eisenbahnen, der Siegeszug der Dampfschiffahrt, die einsetzende Fotografie, neue Technologie im Walfang. Die Zukunft jedoch sei ihm fremd, man müsse sie fürchten

Stimme, laut störend. Multiresistente Keime gelten als eine der größten Bedrohungen. Weil diesen Bakterien mit Antibiotika nicht beizukommen ist, können einfache Infekte lebensbedrohlich werden – neue Verfahren sind entwickelt, aber noch nicht etabliert.

Eine Flut von Informationen überwältige den Menschen, unterbrach Gramner  erzürnt: Wer habe die Digitalisierung der kommunikativen Abläufe verfügt, die überlieferten Strukturen nähmen Schaden, der Überblick gehe verloren, Chaos greife um sich.

Er verstehe das nicht, sagte Thimbleman und nahm an ihrem Tisch Platz, er hatte den Streit unter den Walfängern satt. Sie würden sich nicht einig, sagte er, ob die Hochseejagd ergiebiger sei als der Walfang in den Lagunen, doch sie wüßten kaum, wovon sie redeten, und unterschwellig, sagte er, sei stets der Konflikt mit den Goldgräbern virulent, die Goldgräber führten sich auf, als wären sie die Herren der Welt, was sagt man dazu, Nigger und Rothäute, verlangten sie, gehörten sämtlich versklavt oder ausgemerzt.

So sind sie, die Leute, sagte LaBelle.

Meine Güte, rief McAlister empört aus, diese großmäuligen Kerle hätten nichts als Flausen im Kopf! Sie kämen von weither, und die weitaus meisten würden bitter enttäuscht und kleinlaut auskommen. Der erste Millionär sei keineswegs einer von ihnen, sondern ein Geschäftsmann, der mit dem Handel von Ausrüstungen sein Geld verdiene. Da täuschten sich die Goldgräber grandios über die wahren Herren der Welt.

So hörte man McAlister selten reden.

Stimme, laut störend. Vor allem Kliniken sind die perfekte Spielwiese für Mikroben. Besucher schleppen sie ein, oder die Patienten selbst tragen sie auf der Haut oder im Mund- und Rachenraum. Weil die Keime immer mehr Resistenzen bilden, ist die Behandlung einer Infektion schwierig, teilweise gar nicht mehr möglich.

Die Menschen trügen schwer daran, sagte Gramner, ihre eigene Gemeinschaft zu organisieren. Da rase die Nachricht von Goldfunden um den Planeten, und im Handumdrehen setzten sie sich aus allen Himmelsrichtungen in Bewegung. Werft einen Blick aus dem Fenster – im Hafen liegen Hunderte der akkuratesten Segler, deren Mannschaften zu den Goldgräbern überliefen. Was für ein Irrsinn! Wir alle sehen die heftigen Kämpfe in der Stadt. Der Staat werde verwünscht, der Markt solle dereguliert herrschen. Weshalb bereite dem niemand ein Ende? Die Natur zu plündern, das sei das falsche Leben.

Wer plündere die Natur?, fragte Bildoon.

Daß uns durch Vermittlung der Technik etwa Reichtümer zugeführt würden, sagte Gramner, davon könne keine Rede sein. Im Gegenteil, es finde Raubbau statt, ein beständiger, stetig wachsender und gewaltiger um sich greifender Verzehr, wie ihn der Planet nicht gekannt habe. Dieser Raubbau sei der hohe Preis, den wir für unsere Technik zahlen,.

Dieser Kontinent, erinnerte er, war die Heimat von zahllosen eingeborenen Stämmen und Völkern. An der Westküste wurden sie von den Immigranten ins Landesinnere verdrängt.

Thimbleman lachte. Eine Invasion, sagst du? Da muß aber Geschichte neu geschrieben werden, Gramner. Erzähl das den Goldgräbern. Bei denen wird wieder die Episode von der Wiesenmaus aufgewärmt.

Das amüsiert sie?, fragte LaBelle.

Das amüsiert sie prächtig. Die Wiesenmaus Microtus pennsylvanicus, erklärte Thimbleman, sammelt für den Winter, was sie nur an den sehr verborgen wachsenden Erdbohnen findet. Weil es boshaft und ungerecht wäre, die Vorräte der Wiesenmaus zu stehlen, nehmen die Lakota  nur einen Teil der Bohnen für sich und lassen eine entsprechende Menge Mais als Entschädigung in der Kammer der Maus zurück. Nein, ein Goldgräber werde das nicht verstehen, sagte Thimbleman, nie und nimmer.

Stimme, laut störend. Erst 2018 hatte Novartis, einer der größten Pharmahersteller der Welt, seine Forschung an neuen Medikamenten gegen antibiotikaresistente Bakterien gestoppt. Der Konzern betont stattdessen die Bedeutung neuer Medikamente gegen Krebs und Herzerkrankungen. Beides gilt als deutlich lukrativer.

Die Goldgräber seien eine flüchtige Episode, sagte Gramner, die Ökonomie des Kapitalismus sei destruktiv und werde nach wenigen Jahrhunderten ein beispielloses Desaster hinterlassen. Diverse Stämme und Völker am Klamathfluß ernähren sich seit vielen tausend Jahren von Fischfang und wirtschaften behutsam mit den Beständen. Die First Nations kehren zu ihrer traditionellen Lebensweise zurück.

Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben, sagte McAlister. Er fühlte sich unbehaglich, er blickte zum Tisch der Walfänger, wo sich die Unruhe gelegt hatte, einige Walfänger hatten sich zu den Goldgräbern an die Theke gesetzt, das war dünnes Eis.

Die zugewanderten Siedler und das Goldgräbervolk eigneten sich das Land an, sagte Gramner, sie würden von Regierung und Armee geschützt, die eingeborenen Stämme würden, wo immer es opportun sei, in Reservate zwangsumgesiedelt.

Stimme, laut störend. Der Neunundvierzigjährige aus Berlin trägt einen MRSA-Keim in sich. Das ist die Abkürzung für ›methicillin-resistenter Staphylococcus aureus‹, ein Bakterium, das resistent gegen Antibiotika ist. MRSA hat es als Krankheitskeim zu traurigem Ruhm gebracht.

Die Modoc, sagte Gramner, wurden von der Armee deportiert, über mehrere hundert Kilometer in ein Reservat nach Oklahoma, hundertdreiundfünfzig von ihnen überstanden die Strapazen, und nachdem Jahrzehnte vergangen waren, 1909, wurde den zu dieser Zeit noch einundfünfzig Modoc gestattet, in ein Klamath-Reservat nach Oregon zurückzukehren. Der unheilvolle Rausch der weißen Immigranten nehme kein Ende, sagte Gramner.

Der Klamathfluß im südöstlichen Oregon und im nördlichen Kalifornien hat einen zehntausend Quadratmeilen großen Einzugsbereich, ergänzte er, und beherbergt die drittgrößte Lachspopulation des Landes. Zwei Jahrhunderte nach unserer Zeit erleben die indigenen Stämme das Wirken des technischen Fortschritts – die Wanderwege der Lachse sind durch sieben Dämme und fünfundvierzig Pumpstationen unterbrochen, hundertfünfundachtzig Meilen sind kanalisiert, und fünfhundertsechzehn Meilen Gräben versorgen die Felder mit Wasser.

Die industrielle Agrarwirtschaft nutzt die fruchtbaren Böden, das Klamathbassin nimmt die Gülle des intensiv gedüngten Ackerlandes auf. Die Algen blühen, entziehen dem Wasser Sauerstoff, Fische sterben. Allein noch im Unterlauf  des Flusses könnten sich die Yurok vom Lachs ernähren.

Um die Nutzung des Wassers tobt ein erbitterter Kampf, sagte Gramner, im Jahr 2001 öffneten während einer Dürre mehr als tausend Farmer eigenmächtig die Wehre, um ihre Felder zu bewässern. Die Administration des US-Präsidenten Bush ließ zusätzlich einen Damm am Klamath-See öffnen und gefährdete damit die Fischbestände.

Im September 2003 wurden durch eine Nachlässigkeit in der Wasserversorgung zahlreiche Laichbestände vernichtet, in der Klamath-Flußniederung radikalisierte sich die Auseinandersetzung angesichts verringerter Wasserqualität und wachsender Bedarfe.

Im Sommer 2004, sagte Gramner, erhob der Klamath-Stamm Klage gegen PacifiCorp und dessen Mutterkonzern Scottish Power wegen dessen Betrieb von fünf Dämmen, die die Wanderung der Lachse obsolet machten.

Der heillose Rausch, wiederholte Gramner, finde kein Ende. Der Mensch wolle nicht davon wissen, daß die destruktiven Kräfte wachsen und die gewalttätigen Abläufe sich häufen.

| WOLF SENFF
| Abbildung: „MRSA“ by silverfuture is licensed under CC BY-NC-SA 2.0

Kurze Passagen über die Dämonen Wachstum und Fortschritt, über Raubbau an der Natur und den Rausch sind Friedrich Georg Jünger, Die Perfektion der Technik (1946), entnommen.

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