Gleichgewicht

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gleichgewicht

Die Dinge in der Balance zu halten, das sei des Pudels Kern, sagte Mahorner und blickte zum nächtlichen Himmel.

Es war still.

Wer dort am Strand einen Salto schlug, war nicht zu erkennen, doch es konnte nur der Ausguck sein. Er war an Land unterwegs gewesen und kehrte spät zurück zur ›Boston‹.

Der Ozean draußen rauschte kaum hörbar, gelegentlich tauchte ein Grauwal aus dem Wasser der Ojo der Liebre oder atmete prustend aus.

Harmat gähnte. Was das sei, ein Pudel, fragte er.

Es heißt, das sei ein niederdeutsches Wort für Rätsel, sagte Rostock.

Niederdeutsch, fragte sich Crockeye.

Dann mache es Sinn, sagte Thimbleman.

Wo wäre das Problem, fragte Touste. Das Wasser halte die ›Boston‹ in der Balance, oder?

Wind und Wasser, widersprach Rostock, immer beide zugleich. Er lehnte sich zurück. Er redete sonst nicht so viel.

Die Mannschaft balanciere sie mit Hilfe der Segel, sagte Bildoon.

Das ist korrekt, sagte Gramner. Der Klipper wiegt sich zwischen Wind und Wogen, der Seemann setzt die Segel und hält das Schiff im Gleichgewicht, das ist leichter gesagt als getan. Es geht hoch her, manch eine Mannschaft klagt über Verluste, der Kommandeur schont seine Männer nicht, ihr habt den Fall des Bootswächters erlebt, die Dinge sind kompliziert. Der Mensch greift mit dem Klipper nicht in die natürlichen Abläufe ein, sondern sucht seine Balance zwischen den Kräften der Natur.

Er greift nicht ein, fragte Harmat.

Der Dampfer sagt sich davon los, nicht wahr, fragte Thimbleman.

Er ist nicht darauf angewiesen, zu balancieren, sagte Bildoon, seine Maschine treibt ihn voran und bahnt ihm schnurstracks den Weg durch die Wogen, gewaltsam geht er gegenan, Bildoon lachte, der Dampfer will der Stärkere sein, sagte er, und pfeift auf jegliche Balance. Woher der Wind weht, fügte er hinzu, das schert ihn nicht.

Wo gehobelt wird, fallen Späne, sagte Thimbleman.

Die Dampfschiffahrt ist Fortschritt, sagte Gramner, eine neue Technologie, die sich um die Natur nicht bekümmert, keine Rücksichten nimmt. Sie hat, längst bevor der Dampfer ablegt, sich an den Schätzen der Natur bedient, hat Kohle abgebaut oder Öl gefördert und wartet nicht auf günstigen Wind, sondern wirft ihre Maschinen an und nimmt Fahrt auf.

Der Mensch hat eingegriffen, fragte Harmat.

Der Mensch hat eingegriffen, wiederholte Gramner, nun streckt er seine Hände aus, um über die Natur zu herrschen, er unterwirft sie, er macht sie sich dienstbar.

Das wäre der Irrweg?, fragte Harmat.

Das wäre der Irrweg, sagte Gramner: Die Schätze des Planeten fachen die Begierden an, der Mensch verwechselt Wirklichkeiten, er triumphiert, und unter dem eigenen Geschrei ist er blind für das Leben.

Das nimmt einen Anfang mit den Funden vor Sutters Mühle, sagte Crockeye.

Sacramento, rief McGovern begeistert: Die Generation der Neunundvierziger!

Jede Technologie treibt Raubbau an den Schätzen der Natur, der Mensch ist verblendet, sagte Gramner, seine Ingenieure entreißen dem Erdboden Stoffe, die die Natur über Millionen Jahre unauffindbar verborgen hielt, kaum löslich an Erze gebundene, grauenerregende Stoffe wie Plutonium, oder die entsetzlichen seltenen Erden, die vernichtende Gifte freisetzen, sobald sie nur abgebaut werden, nein, der Mensch wisse nicht, was er tue, sein Handeln sei maßlos, er kenne keine Grenzen.

Pirelli lachte. Er werde es nicht überleben, höhnte er.

Gramner nickte. Heute wäre noch möglich, daß er innehält, sagte er, endgültig innehält, sagte er, und dem Prozeß einen Riegel vorschiebt.

Pirelli hielt das für unwahrscheinlich. Laß zwei Jahrhunderte vergehen, sagte er, und der Planet wird abgewirtschaftet sein.

Weil Grundwasservorräte verbraucht sein werden, werde in diversen Regionen der natürliche Wasserkreislauf einbrechen, sagte Gramner, der Untergrund verdichte sich, die Böden sacken ab.

Grundwasser?, fragte Harmat.

Drei Jahrhunderte kapitalistischer Ökonomie, sagte Gramner, werden auf breiter Front irreversible Ergebnisse zeitigen. Die Böden von Metropolen wie Mexiko City und Jakarta würden bald nach Beginn des neuen Jahrtausends jährlich um zwanzig Zentimeter absinken, in Teheran sei der Flughafen dadurch akut gefährdet, der Millennium Tower in San Francisco versinke nach und nach im Boden.

Wovon Gramner rede, fragte sich Rostock.

Andererseits steige der Meeresspiegel, sagte Gramner, und für Florida werde für 2170 vorhergesagt, daß es bis auf wenige Regionen vom Atlantik überflutet sei. Das Ausmaß der Katastrophe ist unabsehbar. Louisiana verliere stündlich ein Areal von etwa der Größe eines Fußballfeldes an das Meer. Das hänge mit den Gräben zusammen, die von der Ölindustrie angelegt werden, und mit dem Eindringen von Salzwasser.

Unvorstellbar, murmelte Rostock und war entsetzt.

Der Ausguck kam aus dem Handstand herunter und lehnte sich an die Reling. Wie angenehm, dachte er, nicht in derartigen Zeiten leben zu müssen, die Welt sei aus dem Gleichgewicht.

Kraß, sagte Bildoon.

Die Fundamente menschlicher Zivilisation würden kollabieren, sagte Gramner, unaufhaltsam, Schritt für Schritt. Australien, heißt es, werde zunächst am schärfsten von den klimatischen Verwerfungen des Planeten getroffen, ein Ende der andauernden Trockenheit in Queensland und New South Wales sei nicht absehbar, und wer es sich leisten könne, überlege, seinen Lebensmittelpunkt nach Tasmanien zu verlegen oder sogar nach England, wo voraussichtlich noch ein Jahrhundert lang ein lebenswertes Klima herrsche, doch letztlich werde es keinen sicheren Hafen geben, keine Zuflucht, null, für niemanden.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

House Killed The Radio Star: New Release Reviews

Nächster Artikel

Grenzenlose Freundschaft

Weitere Artikel der Kategorie »TITEL-Textfeld«

Von kalten Elefanten

TITEL-Textfeld | Slata Kozakova: Von kalten Elefanten Kälte weht durch das gekippte Fenster. Der Erzähler wickelt sich einen Schal um den Hals und schreibt weiter. Der Porzellanelefant neben seinem rechten Arm sieht ihn vorwurfsvoll an und versucht sich umzudrehen, es gelingt ihm nicht. Tut mir leid, entschuldigt sich der Erzähler, Ich brauche frische Luft. Ist ja kein Durchzug.

Endlich

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Endlich
Ein Planet könne nicht wachsen, sagte Farb, Wachstum, was für ein absurder Gedanke, die Fläche sei begrenzt.

Wo liege das Problem, sagte Belten.

Der Mensch sei das Problem, sagte Farb.

Der Schachspieler nickte.

Sergej und Maurice spielten Backgammon, sie tauschten Scheine, offenbar waren hohe Summen im Spiel, früher Nachmittag, die Hitze hatte leicht nachgelassen.

Zu Gast

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zu Gast

Zweihundertfünfzig Jahre, sagte Tilman, das sei wohl kaum vergleichbar, und deutete hinüber zum Gohliser Schlößchen, das, sagte er, als Landsitz des hiesigen Ratsbaumeisters Johann Caspar Richter entstanden sei und heute mit liebevoller Sorgfalt als ein kulturelles Zentrum der Stadt gepflegt werde.

Sie saßen zu viert auf der Terrasse, Farb trug Tee, Yin Zhen, auf, ihr Gast schwieg, was hatte ihn hierher verschlagen, er arbeitete sich an den vielerlei fremden Eindrücken ab, was waren das für seltsame Trinkgefäße, man hielt sie an einem zierlichen Griff, mit kräftiger Farbe waren Drachen aufgetragen, und das Getränk, was hatte es für einen lieblichen, zarten Geschmack, die Dinge weckten seine Sympathie.

Eine andere Welt, sagte er und lächelte milde: Wir kennen keine Schlösser, unsere Könige ruhen in reich ausgestatteten Gräbern.

Rückbau

Textfeld | Wolf Senff: Rückbau Der Leitgedanke der neuen Zeit, sagt Gramner, werde Rückbau sein, die industrielle Zivilisation sei gescheitert, sagte Thimbleman, definitiv, sagte er, Rückbau werde zum Namen der neuen Epoche, er setzte sich aufrecht. Du warst zu lange im Wasser, entgegnete der Ausguck. Wasserkopf!, spottete er, stand auf, nahm Anlauf und schlug einen Salto. Und überhaupt, rief er: Welche neue Zeit? Das dritte Jahrtausend, sagt Gramner.

Konflikt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Konflikt Er solle die Finger vom Ausguck lassen, herrschte Pirelli McCrockeye an, weil dieser dem Ausguck erneut Nichtstun vorgeworfen hatte, ein Faulpelz sei der, und sich über das, wie er es nannte, Herumgehüpfe beklagte, der Ausguck werde sich dabei den Hals brechen. Auch Thimbleman war nicht ungeschoren geblieben, mit dem Schwimmen im Meer setze er leichtfertig sein Leben aufs Spiel, er trage schließlich eine Verantwortung gegenüber der Mannschaft, und erzürnt hieb Crockeye mit der Faust auf die Reling.