Klassentreffen der Buchverrückten

Literatur | 43. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt

Man kann ihn per Livestream verfolgen, chipsknabbernd am TV mitfiebern oder sich einen begehrten Sitzplatz am Austragungsort im ORF-Theater erkämpfen. Beim Bachmannwettbewerb (in diesem Jahr vom 26. bis 30. Juni 2019) treten an: vierzehn lesende Autoren aus drei Ländern, sieben diskutierende Juroren und zwei charmante Moderatoren. Auf dem Spiel stehen fünf Preise in der Gesamthöhe von über 60.000 Euro, nebst einem Stadtschreiberstipendium – und die Hoffnung auf den Startschuss für die ganz große Karriere. INGEBORG JAISER ist an den Ort des Geschehens gepilgert.

Bachmannpreis 2018Was treibt nur alljährlich einen eingeschworenen Kreis von Literaten und Lesehungrigen, von Verlagsleuten und Medienvertretern, von pensionierten Deutschlehrern und intellektuellen Adabeis ins kärntnerische Klagenfurt? Seit 1977 wird hier jeden Sommer der renommierte Ingeborg-Bachmann-Preis ausgelobt, während eines ritualisierten Spektakels, das sich offiziell etwas sperrig Tage der deutschsprachigen Literatur nennt (für Insider und Hashtagger: tddl).

Ausgetragen in der südlichsten Ecke Österreichs, nah an der Grenze zu Slowenien und Italien, eine gute Tagesreise von vielen deutschen Medienstädten entfernt – so peripher, dass man allein schon die beschwerliche Anfahrt in dieses verdichtete Paralleluniversum wie eine Läuterung, eine Wallfahrt empfindet.

Anfänger und arrivierte Autoren

»Angeblich liegt während dieser paar Tage in Klagenfurt die Literatur förmlich in der Luft«, mutmaßt einer der diesjährigen Autoren, Lukas Meschik, bereits im Vorfeld. Doch nicht nur das: als angenehme Begleiterscheinung zum spannenden Live-Event darf der Literaturtourist meist sattes Badehosenwetter am türkisblauen Wörthersee erwarten – durchsetzt von Hitzegewittern, die sich mit schöner Regelmäßigkeit gerade meist dann über Schloss Maria-Loretto entladen, wenn dort Klagenfurts Bürgermeisterin Maria Luise Mathiaschitz die anwesenden Akteure samt Entourage zum abendlichen Empfang einlädt.

Seit Mai können Wettbewerbs-Anhänger und Fans auf der Homepage des Bachmannpreises die ausgewählten Kandidaten nebst Video-Porträts bewundern, gefolgt von launigen Interviews und Einblicken auf Facebook. Dennoch schwingt ein Hauch von Big-Brother-Feeling mit. Katharina Schultens, eine der Autorinnen, orakelt vorsichtig: »Bestenfalls wird das sowas wie ein Chorwochenende mit lauter Unbekannten«, während Lukas Meschik unverhohlen auf das »Klassentreffen der Buchverrückten« hinfiebert. Eine homogene Gruppe ist dennoch nicht zu erwarten: die vierzehn Autoren bewegen sich zwischen Jahrgang 1959 und 1996, zwischen langer Publikationserfahrung und dem sprichwörtlich »unbeschriebenen Blatt«.

Wörter-Wrestling

Doch Vorhang auf! Selbst für notorische Klagenfurt-Pilger hält jeder Jahrgang neue Überraschungen bereit – trotz ritualisiertem Ablauf, unveränderter Jury und bekannter Kulisse. So hat die Erneuerung der Klimaanlage im ORF-Theater wohl zum Wegfall der beliebten roten Give-away-Fächer geführt, mit denen sich bislang so theatralisch wedeln ließ. Auch das übliche Gerangel des Saalpublikums um die begehrten (kostenlosen!) Sitzplätze ist in diesem Jahr einer heiteren Gelassenheit gewichen, selbst wenn der tägliche Aufstieg in die Arena wie das Erklimmen der Eiger-Nordwand wirken mag.

In nur vermeintlich sportiver Anmutung kommt dagegen die Klagenfurter Rede zur Literatur von Clemens J. Setz daher, die den ungewöhnlichen Titel Kayfabe und Literatur trägt (Wrestling-Kundige sind hier im Vorteil), jedoch zu enormer Resonanz und Zitierungshäufigkeit in den folgenden Tagen führt. Weiteres Highlight am Eröffnungsabend: die traditionelle Auslosung der Lesereihenfolge. Hier entpuppt sich der Zufall als bester Regisseur und würfelt am ersten Lesetag ausschließlich weibliche Kandidaten zusammen, während am darauffolgenden Nachmittag sehr spannungsreich der älteste Autor (Tom Kummer, 58) direkt auf den jüngsten folgt (Daniel Heitzler, 23).

Untote österreichische Blaublüter

Ansonsten beeindruckt eine enorme Bandbreite an Themen und Texten, ein intensives Abtauchen in fremde Mikrokosmen und Universen – so betörend, dass man nachmittags geradezu benommen aus dem ORF-Landesstudio ins Freie taumelt. Was bleibt wohl in Erinnerung?

Ganz sicher Katharina Schultens‘ Romanauszug Urmünder, ein hochkomplexer, dystopischer Text über zukünftige Fortpflanzungsmysterien, voller botanischer Metaphern und rätselhafter Anspielungen. Gefolgt von Sarah Wipauers gespensterhaftem Kammerspiel Raumstation Hirschstetten, einer geschickten Verquickung von lexikalischen Fakten mit famoser Fiktion, die dem Juror Michael Wiederstein eine geniale Zusammenfassung entlockt: »Untote österreichische Blaublüter okkupieren die ISS«.

In Unweit vom Schakaltal inszeniert die gebürtige Kärntnerin Julia Jost eine bitterböse Opfergeschichte aus Kindersicht, eine sarkastische österreichische Heimatkunde der besonderen Art, bei der einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Eher verhalten ist dagegen die Resonanz auf Andrea Gersters Großmutter-Story Das kann ich ein biederer Text  mit einer biederen Protagonistin, auch wenn sich der Juryvorsitzende Hubert Winkels redlich bemüht, ein Stephen-King-Setting heraufzubeschwören, Juror Klaus Kastberger dagegen schlichtweg das »Provokationspotential« vermisst.

Aus ganz anderen Gründen zeigt sich die Jury nicht immer diskussionsfreudig. Vor allem Ronya Othmanns Vierundsiebzig, ein aufwühlender reportagehafter Text über den Völkermord des IS an den Jesiden in Shingal, rührt am Unsagbarkeitstopos, lässt manche Kritiker verstummen angesichts der offensichtlichen Zeugenschaft und der autobiographischen Zusammenhänge. Manchmal dämmert eher das Publikum weg. Daniel Heitzler, jüngster Teilnehmer und zumindest optisch ein bunter Paradiesvogel (mit glänzender Langhaarmähne und akkurat lackierten schwarzen Fingernägeln) sediert mit dem langatmigen Vortrag seiner Mexiko-Saga Der Fluch durch die irritierende Mischung aus elaborierter Sprache und träger Handlung etliche Zuhörer im Saal und fördert den frühen Nachmittagsschlaf.

Tempo, Trips und Trennungsschmerz

Wie schön, dass das Geschehen mit Tom Kummer und seinem literarischen Road-Movie Von schlechten Eltern wieder Fahrt aufnimmt, auch weil in diesem Falle Video-Porträt und vorgelesener Text endlich eine symbiotische Beziehung eingehen. »Ich mag kurze Sätze, hohes Tempo, verdichtete Sprache« gesteht der Autor, der in seiner starken Story »90er-Jahre-Popästhetik und Noir-Elemente“ (so Hubert Winkels) vereint. Herumfahren, Reisen, Unterwegssein – wenngleich getrieben vom Trennungsschmerz – ist ebenfalls ein zentrales Thema von Yannick Han Biao Federers Geschichte Kenn ich nicht. Juror Michael Wiederstein glaubt hier sogar »den besten letzten Satz« gefunden zu haben. Oder steckt der viel eher in Birgit Birnbachers Der Schrank, einer herrlich schrägen Prekariatsgeschichte und ironischen soziologischen Studie über die Bewohner eines (Wiener? Salzburger?) Gemeindebaus? Ganz nah bei seinen Personen ist auch Leander Fischer mit Nymphenverzeichnis Muster Nummer eins Goldkopf, der Geschichte einer Obsession für das Fliegenfischen, in der die Hauptfigur gleichzeitig (Musik-)Lehrer und (Nymphenknüpf-)Lehrling ist. Ein Text, der mit seiner Kunstfertigkeit und seinem Witz Jury und Publikum gleichermaßen ködert.

Mehr Transparenz bei der Preisvergabe

Nach einer im Vorjahr etwas undurchsichtigen Ermittlung der Preisträger, bemüht sich die Jury in diesem Jahr um sichtlich mehr Transparenz. Aus der zuvor bestimmten Short-List werden am Sonntagvormittag in einer nicht einmal einstündigen öffentlichen Veranstaltung die Preisträger herausdestilliert, kurz, knapp, oft durch Stichwahl.

Im Bild: v.l.: Leander Fischer (Deutschlandfunkpreis), Ronya Othmann (BKS Publikumspreis), Birgit Birnbacher (Ingeborg Bachmannpreis), Julia Jost (KELAG Preis), Jannic Han Biao Federer (3 SAT Preis)<br> ORF/ORF K/Johannes Puch
Im Bild: v.l.: Leander Fischer (Deutschlandfunkpreis), Ronya Othmann (BKS Publikumspreis), Birgit Birnbacher (Ingeborg Bachmannpreis), Julia Jost (KELAG Preis), Jannic Han Biao Federer (3 SAT Preis)
Foto: ORF/ORF K/Johannes Puch

Der von der Landeshauptstadt Klagenfurt gestiftete Ingeborg-Bachmann-Preis (25.000 Euro) geht an die sichtlich gerührte Birgit Birnbacher, der Deutschlandfunk-Preis (12.500 Euro) an Leander Fischer, der Kelag-Preis des örtlichen Energieversorgungsunternehmens (10.000 Euro) an Julia Jost, der 3Sat-Preis (7.500 Euro) an Yannic Han Biao Federer, der durch Internet-Voting bestimmte BKS-Publikumspreis (7.000 Euro) samt Stadtschreiberstipendium an Ronya Othmann.

Was jetzt noch bleibt, ist der Abschied: von einem höchst inspirierenden Lese-Marathon, überraschenden Begegnungen, literarischen Verlockungen, kleinen Enttäuschungen (kein Preis für Tom Kummer) und Kärntens heißestem Juni ever. Nicht einmal gewittert hat es über Maria Loretto. »Nach Klagenfurt kommt man nicht, nach Klagenfurt gerät man. Entweder durch Geburt, Unvorsichtigkeit, Zufall oder aus Jux und Tollerei,« schrieb der österreichisches Schriftsteller Alexander Widner. Wer einmal dem Genius Loci erlegen ist, kommt immer wieder. Und sei es nur aus Jux und Tollerei.

| INGEBORG JAISER

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