Fotografie | Interview mit Lois Lammerhuber
Noch bis Ende September läuft in Baden bei Wien und dem franzözischen La Gacilly das größte Open-Air-Fotofestival Europas. FLORIAN STURM hat die Veranstaltung in Niederösterreich besucht und mit einem der beiden Festivalleiter, Lois Lammerhuber, über die Hintergründe des Events, Kunst im öffentlichen Raum und den Zusammenhang von Fotografie und Fußball gesprochen.
Herr Lammerhuber, das Festival La Gacilly-Baden Photo verbindet Österreich und die Bretagne. Was ist das Konzept der Veranstaltung?
Lois Lammerhuber: Ursprung ist das Festival Photo La Gacilly, das seit nunmehr 16 Jahren jeden Sommer in Frankreich stattfindet. Und alle Ausstellungen, die dort gezeigt werden, werden ein Jahr später bei uns hier in Baden gezeigt zu. Es ist somit ein paneuropäisches Fotofestival. Und eines, das im letzten Jahr fast 500.000 Besucher zählte.
Wie entstand die Idee, Baden und La Gacilly zu verbinden?
Am Anfang stand ein emotionaler Zugang. Der Gründer des bretonischen Festivals, Jaques Rocher, hatte mich bereits mehrfach eingeladen, doch irgendwie war es mir immer zu weit, dafür bis in die Bretagne zu reisen. Als ich 2017 nun im Rahmen eines gemeinsamen Buchprojekts nach La Gacilly kam und meine ersten Runden durch den Ort drehte, hatte ich die ganze Zeit Baden im Kopf. Beide Orte sehen zwar im Detail völlig anders aus, aber die Atmosphäre der Orte betreffend, gibt es zahlreiche Gemeinsamkeiten.
Plötzlich war da dieser Gedanke, die Ausstellungen von La Gacilly in die Parks von Baden zu bringen – obwohl ich mir die Absurdität dieses Einfalls natürlich bewusst war. Schließlich reisen Festivals nicht. Trotzdem schlug ich Jacques beim Abendessen vor, das Konzept von Art Basel und Miami auf La Gacilly und Baden zu übertragen. Und er war ebenso begeistert von der Idee wie ich.
Beide Orte trennen Luftlinie fast 1.400 Kilometer. Außerdem galt es, etwa 30 Ausstellungen von A nach B zu transportieren. Was waren Ihre größten Bedenken?
Wir waren natürlich viel zu optimistisch und es stellte sich heraus, dass mehr dazugehört als die Bilder in La Gacilly abzuhängen, zu reinigen und hier in Baden wieder aufzustellen. Baden ist ein Kurort aus dem 19. Jahrhundert. Ein Großteil unserer Bausubstanz ist denkmalgeschützt und daher ist allein technisch alles nicht so einfach wie gedacht. Aufgrund unserer optimistischen Einschätzungen, was wir alles selbst würden machen können, haben wir viel zu kleine Budgets angesetzt. Andererseits haben es sich dadurch alle überhaupt erst zugetraut, das Festival hier zu starten. Als wir die Premiere von 2018 vorbereiteten, wussten wir jedoch schon zu Weihnachten 2017, dass wir wohl das doppelte Budget brauchen werden.
Woher kommt die Finanzierung?
Wir sprechen hier von fast einer Million Euro. Die Stadt Baden gibt 150.000 Euro an den gemeinnützigen Trägerverein Fotofestival Baden und kommt für die gesamte Arbeitsleistung – und das ist enorm viel – der Gärtner und des Bauhofes auf. Weitere 80.000 Euro stellt die Stadt, um Materialien zu kaufen und Spezialisten mit dem Aufhängen der riesigen Leinwände zu beauftragen. Das Land Niederösterreich bezuschusst das Festival mit einer Kulturförderung in Höhe von 150.000 Euro. Den Restbetrag, also knapp 650.000 Euro, muss ich über private Sponsoren finden.
Inwieweit sind die Ausstellungen von La Gacilly 2018 und Baden 2019 identisch – nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Anordnung?
26 Ausstellungen kommen 1:1 aus La Gacilly. Die Prints sind identisch und auch die Art der Präsentation wird von uns beibehalten. Allerdings haben wir 14 weitere Ausstellungen hinzugefügt, sozusagen als Kommentar aus einer anderen Weltgegend, denn ich möchte auch die österreichische Sicht auf die Fotografie in Baden versammeln.
Das Festival hier in Baden steht unter dem Motto ›Hymne an die Erde‹. Was verbirgt sich hinter diesem Titel?
Auch dafür müssen wir zunächst nach La Gacilly blicken. Das Festival dort feierte vergangenen Sommer sein 15-jähriges Bestehen. Eigentlich kein großes Jubiläum, aber trotzdem ein wichtiger Schritt im Leben, denn es markiert den Übergang in die Adoleszenz: Du blickst dich um und schaust, wo du stehst im Leben. Und wenn ein Festival wie in La Gacilly mit seinen über 300.000 Besuchern um sich blickt, was sieht es dann? Die Welt. Also wollten wir der Erde die gesamte Veranstaltung widmen. Mit ›Hymne an die Erde‹ drücken wir aus, dass wir unseren Planeten lieben und schützen wollen – dafür aber gleichzeitig eine Menge Probleme lösen müssen.
Über die Hälfte der Ausstellungen in Baden stammt aus La Gacilly. Es ist das erste Mal, dass Sie als Festivalleiter nicht selbst kuratieren. Fühlt es sich so an, als hätte man die wichtigste Kontrolle eines solchen Events abgegeben?
Nein, denn fast alle Leute, deren Bilder gezeigt werden, kenne und verehre ich. Viele sind Lebenswegbegleiter. Natürlich gibt es trotzdem einige Positionen, bei denen sich der frankophone oder angelsächsische Umgang mit Fotografie von meinem, seit 1995 maßgeblich in Hamburg geprägten, Denken in der Fotografie unterscheidet. Doch das empfinde ich nicht als Problem, sondern als Bereicherung.
Zwei Ausstellungen fallen etwas aus dem Rahmen, da sie nicht im Freien stattfinden. Die aktuellen Preisträger des Leica Oskar Barnack Awards und ein neu entwickeltes Format der World-Press-Photo-Ausstellung. Was hat es mit letzterer auf sich?
Ich kenne Lars Boering, den Direktor der World Press Photo Foundation, seit langer Zeit. Als er letztes Jahr zur Jurysitzung des Alfred Fried Photography Award nach Wien kam, beschlossen wir, für das Festival im nächsten Jahr etwas Neues zu kreieren. Herausgekommen ist eine World-Press-Photo-Ausstellung, in der wir einerseits alle Siegerfotos seit 1955 gemeinsam in einem Raum zeigen. Darüber hinaus wählten wir einige besonders ikonische Siegerfotos aus, die wir großformatig und im chronologischen Kontext des jeweiligen Jahres präsentieren. Als Betrachter sieht man also nicht nur das Foto, sondern bekommt zugleich ein Gefühl für das, was in diesem Jahr zeitgeschichtlich geschehen ist. Doch nicht nur das Format, sondern auch der Ort der Ausstellung ist interessant: Die Bilder hängen und stehen an den Wänden einer alten, leergeräumten Biedermeier-Wohnung.
38 der 40 Werkschauen des Festivals finden unter freiem Himmel statt. Welchen Stellenwert hat für Sie Kunst im öffentlichen Raum?
Ich bin grundsätzlich ein großer Freund dieses Ansatzes – und im Kontext mit Fotografie ist er mir besonders wichtig. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Zeit der Fotografie jetzt gerade erst beginnt. Es gab in der Geschichte der Menschheit noch nie einen Zustand, wie wir ihn durch die Erfindung des Smartphones vorfinden: Plötzlich haben Milliarden Menschen barrierefreien Zugang zum kreativen Ausdruck.
Was bedeutet das konkret?
Auf diese Frage will ich mit einem Beispiel antworten: Da viele von uns irgendwann einmal Fußball spielten, haben wir eine Beziehung zu diesem Sport und letztlich zu Formaten wie der Champions League. Über die Jahrzehnte hat sich Fußball einen ganz besonderen Stellenwert in unserer Gesellschaft erobert. Ich denke, ähnlich steht es um die Fotografie heute. Jeder fotografiert. Daher entwickelt fast jeder eine Beziehung zur Fotografie. Unser Champions-League-Format ist im übertragenen Sinn das Festival. Die Menschen gehen hin, weil sie sich für Fotografie zu interessieren begonnen haben und begeistert sind. Das passt nur in einem Punkt nicht zusammen, allerdings ist dieser Unterschied dennoch verständlich: Die Menschen haben gelernt, Eintritt ins Stadion zahlen zu müssen. Bei Festivals wie diesem hier ist der Eintritt frei. Was natürlich damit zu tun hat, dass via Internet Fotografie häufig kostenfrei zugänglich ist. Es gibt auch keine Öffnungszeiten, das Festival kann vier Monate 24 Stunden lang besucht werden. Dieses Format ist eben geschichtlich anders gewachsen. Und wir dürfen nicht vergessen, dass dieses Festival nicht nur Entertainment und Spannung wie Fußball bietet, sondern noch viel mehr wie Ästhetik, Wissensvermittlung, Nachdenken und Sinnlichkeit. Das ist alles schon sehr anspruchsvoll. Und dass wir in der Lage sind, dies den Menschen nahe bringen zu dürfen, betrachte ich als ungeheures Privileg.
Sie waren vor Kurzem bei horizonte zingst zu Gast. Auch dort gibt es zahlreiche Open Air-Ausstellungen. Und auch dort stehen Umwelt- und Naturschutz im Fokus. Wird Kunst – auch durch ihre öffentliche Präsentation – ein immer lauterer Appell an Politik und Gesellschaft?
Unbedingt. Das ist eine Einladung, über Spitzenfotografie und die Ästhetik einer Kunstform, die jeder Mensch versteht, ein Bewusstsein für das drängendste Problem unserer Gesellschaft zu schaffen. Wir müssen einfach etwas tun. Auch deshalb führen wir bereits Gespräche mit den Zingstern, ob wir uns –als Trio mit La Gacilly – nicht zusammenschließen könnten und eine gemeinsame Haltung kommunizieren.
Sie sind seit 1983 im Fotogeschäft – erst als Fotograf, dann als Buchverleger und nun auch als Festivalleiter – und haben quasi schon alles gesehen? Was macht Fotografie für Sie aus?
Im Gegensatz zu allen anderen Künsten muss man als Fotograf in der Lage sein, innerhalb seines Lebenswissens und eines Konzeptes Situationen zu antizipieren und in extrem kurzer Zeit – ich meine binnen Sekunden und Minuten – sein gesamtes ästhetisches Vermögen abzurufen um einen kreativen Vorgang erkennen, beginnen und abschließen können. Das ist ein enormes Anforderungsprofil und mit nichts anderem vergleichbar.
Wie stehen Sie der vielzitierten »Bilderflut« gegenüber?
Ich sehe das anders als die meisten. Bei Instagram werden täglich 80 Millionen Fotos hochgeladen und alles stöhnt, wer sich diese Fotos ansehen soll. Doch wissen Sie, wie viele E-Mails täglich verschickt werden? Fast 300 Milliarden. Dazu kommen noch Tweets, SMS und Messenger-Nachrichten. Und niemand sagt: Wer soll denn das lesen?
Im Grunde befinden wir uns mitten in einem Kulturkampf. »Am Anfang war das Wort« heißt es im Johannesevangelium und Macht kommuniziert nach wie vor primär übers Wort. Doch die Zeiten ändern sich. Gerade erleben wir, wie sich eine zweite, sehr kräftige Stimme entwickelt: nonverbale Kommunikation. Und die funktioniert zweifelsohne über unser Smartphone und die darin integrierte Kamera.
Was folgt daraus?
Das Wort muss unweigerlich etwas Raum an das Foto abgeben. Auch deshalb finde ich es richtig und wichtig, wenn wir uns zunehmend an Bilder ohne Bildlegenden gewöhnen. Denn wir sollten Fotos lesen und interpretieren lernen, auch wenn keine unmittelbare schriftliche Erklärung mitgeliefert wird.
Dieses Konzept wird auch hier in Baden angewandt.
Genau, denn wir vereinbaren hier mit der künstlerischen und dokumentarischen Fotografie zwei Genres, die sich zwar nicht spinnefeind sind, aber doch selten gemeinsame Wege gehen. Beim Festival La Gacilly-Baden Photo ergänzen sich beide Positionen optimal. Für jede Ausstellung haben wir ein Einleitungspanel, das Fotograf und Projekt vorstellt. Die dokumentarischen Arbeiten werden mit sehr kurzen Bildlegenden versehen, die künstlerischen hingegen bleiben unkommentiert.
Was wünschen Sie sich für das Festival – sowohl bis zum Ende des Sommers als auch in den nächsten Jahren?
Ich brauche mir nichts mehr zu wünschen, denn es ist schon eingetreten, wovon ich nicht einmal zu träumen gewagt hätte: Zur Eröffnung sind 29 der 33 ausstellenden Fotografen gekommen, es waren 71 Medienvertreter anwesend – von Norwegen bis Italien und von Frankreich bis Rumänien. Und dann gab es zwei Ereignisse, die mein Herz berührt haben. So hat mich im August des Vorjahres eine ältere Dame angesprochen und mir offenbart, dass sie zwar gebürtige Badnerin sei, aber mit Parks und Gärten nicht gar so viel »am Hut« hätte. Aber natürlich sei sie durch das Aufhängen der Bilder neugierig geworden und ist eine Runde gegangen. Und seither, so sagte sie, gehe sie jeden Tag die Bilder besuchen. Auf meine Frage, wie es denn zu diesem schon recht radikalen Gesinnungswandel gekommen sei, antwortete sie: »Durch die Fotografien ist der öffentliche Raum wertvoll geworden«. Das hatte ich selbst so gar nicht auf den Punkt gebracht. Und jetzt eben, am Tag nach unserer Eröffnung am Ende eines Vortrages von Shana und Robert ParkeHarrison hat mich ein schweizerisch-britisches Ehepaar angesprochen, um mir zu sagen, dass sie auf einer Europareise und der Suche nach einem Wohnsitz für ihren letzten Lebensabschnitt unter anderem auch nach Baden gekommen sind und als sie das Festival gesehen hatten stand ihre Entscheidung fest: Hier wollen wir leben.
| FLORIAN STURM
| TITELFOTO: © Karen Knorr / Festival La Gacilly-Baden Photo
Zur Person
Lois Lammerhuber (*1952) hat als Fotograf mehr als 1.000 Reportagen erarbeitet, davon etwa 250 für die Zeitschrift GEO. Seit 1994 ist Lammerhuber Mitglied des Art Director‘s Club New York. Im Jahr 2009 gründete er gemeinsam mit seiner Frau Silvia Lammerhuber den Verlag Edition Lammerhuber, der seither mit über 200 Preisen bedacht wurde. 2013, 2015 und 2017 wurde die Edition Lammerhuber von der Federation of European Photographers (FEP) als bester Fotobuchverlag Europas ausgezeichnet.
Titelangaben
Festival La Gacilly Baden Photo
Bill Allard ist diesjähriger Artist-in-Residence beim größten Open-Air-Fotofestival Europas, dem Festival La Gacilly Baden Photo, das noch bis zum 30. September im französischen La Gacilly und dem österreichischen Baden stattfindet.