Schreiben mit dem Weitwinkel

Menschen | Zum Tod der Georg-Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer

›Eigentlich ist man als Schriftsteller immer froh, wenn sich Wahrnehmungen verändern. Man darf sich bloß nicht in einen blöden Sog bringen lassen‹, hatte Brigitte Kronauer im letzten Jahr in einem FAZ-Interview auf die Frage nach möglichen Problemen mit dem Älterwerden erklärt. Von PETER MOHR

Brigitte Kronauer (2016) Foto: (c) Juergen Bauer
Brigitte Kronauer (2016)
Foto: (c) Jürgen Bauer
Klett-Kotta-Verlag
Von einer völlig neuen künstlerisch-stilistischen Leichtigkeit war ihr 2013 erschienenes Opus ›Gewäsch und Gewimmel‹ geprägt, das uns eine bis dahin gänzlich unbekannte Facette der Autorin offenbarte, denn so humorvoll und unangestrengt wie in diesem Roman waren wir Brigitte Kronauer zuvor noch nie begegnet.

Und auch in ihrem letzten Roman ›Der Scheik von Aachen‹ (2016) hielt die gebürtige Essenerin an diesem Stil fest. Mit beeindruckender Beobachtungsgabe und großer sprachlicher Präzision fand Brigitte Kronauer eine singuläre Balance zwischen Tragik und Komik.

Als im Sommer 2005 bekannt wurde, dass sie den Georg-Büchner-Preis erhalten sollte, gehörte ihr Vorgänger Wilhelm Genazino zu den ersten Gratulanten. Kein Zufall, denn beider Werke weisen viele Parallelen auf. Kronauer und Genazino schrieben viele Jahre auf hohem Niveau, wurden von der Kritik stets wohlwollend begleitet, ohne jedoch ein breites Lesepublikum gefunden zu haben.

Brigitte Kronauer, die am 29. Dezember 1940 in Essen geboren wurde, war eine Meisterin der Beschreibung. Jede vordergründig nebensächliche Veränderung in den Figurenkonstellationen, jede winzige Regung in der Natur wurde registriert: sie arbeitete mit einem literarischen Weitwinkel – ganz nah heran ans Geschehen und mit viel Tiefenschärfe ein breites Spektrum ablichten.

Kronauer, die seit vielen Jahren in Hamburg lebte und dieser Stadt und ihrem Umfeld im Roman ›Teufelsbrück‹ (2000) ein eindrucksvolles literarisches Denkmal setzte, hat in den frühen 1970er Jahren den Lehrerberuf an den Nagel gehängt und sich ganz der Literatur zugewandt. Ein Wagnis, das sich erst ein Jahrzehnt später auszahlte.

Drei schmale Bände mit Prosa und Aufsätzen waren bereits in Kleinverlagen erschienen, als der Verlag Klett-Cotta 1980 ihren ersten Roman ›Frau Mühlenbeck im Gehäus‹ herausbrachte. »Wie ist es möglich, solche Sätze zu machen und jahrelang den Suchstrahlen der Literatur-Akquisition zu entgehen«, fragte damals die drei Jahre ältere Schriftstellerkollegin Hannelies Taschau in einer Rezension.

Der Durchbruch gelang Brigitte Kronauer dennoch erst 1986 mit dem Roman ›Berittener Bogenschütze‹, in dem sie einen Literaturwissenschaftler an einem Aufsatz mit dem Titel ›Die Leere, Stille, Einöde im innersten Zimmer der Leidenschaft‹ schreiben lässt. Der Protagonist Matthias Roth (wie Kronauer selbst leidenschaftlicher Joseph Conrad-Fan), der eine schwere intellektuelle Lebenskrise durchmacht, wirkt wie ein männliches Erzähl-Ego seiner Schöpferin.

Drei Jahre später erfolgte die erste bedeutende öffentliche Auszeichnung, als ihr der Heinrich-Böll-Preis verliehen wurde. Danach erhielt Brigitte Kronauer zudem noch den Mörike-Preis, den Bremer Literaturpreis und 2005 den Georg-Büchner-Preis.

Seit 1990 (›Frau in den Kissen‹) hat Brigitte Kronauer fast jährlich ein neues Buch publiziert: Romane, Prosa und immer wieder auch höchst intelligente Aufsätze und Essays. Eines ihrer gelungensten Werke war der schmale Prosaband ›Schnurrer‹ (1992), der Momentaufnahmen von fotografischer Genauigkeit aus dem Leben der leicht kauzigen Hauptfigur Karl-Rüdiger Schnurrer lieferte.

Dieser introvertierte Schnurrer könnte mit all seiner Apathie indes auch ein Bruder von Willi Wings sein, der Hauptfigur aus Kronauers Roman ›Das Taschentuch‹ (1994). Beide zeichnen sich dadurch aus, nicht aktiv am Leben teilzunehmen, sondern es zu beobachten.

Das Schöne Schäbige Schwankende 9783608964127 - 500Brigitte Kronauer war eine der gebildetsten, sprachmächtigsten und fantasievollsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen, sie war die Feinmechanikerin der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Am Montag ist sie im Alter von 78 Jahren in Hamburg gestorben. In wenigen Wochen kommen ihre Romangeschichten ›Das Schöne, Schäbige, Schwankende‹ auf den Markt. Wir müssen diese nun leider als künstlerisches Vermächtnis lesen.

| PETER MOHR
| Titelfoto: (c) JÜRGEN BAUER / Klett-Kotta Verlag

Titelangaben
Brigitte Kronauer: Das Schöne, Schäbige, Schwankende
Romangeschichten
Stuttgart, Klett-Kotta Verlag 2019
596 Seiten, 26 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

731 Days Gone

Nächster Artikel

Die Katze schlägt zurück

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Irgendwie pathologisch

Menschen | Waschkau / Bartoschek: Muss man wissen! Ob es Ken Jebsen ist oder Jürgen Elsässer, Andreas Popp oder (ja, allen Ernstes) Xavier Naidoo – Verschwörungstheorien sind, spätestens seit Bestehen der neuen »Montagsdemos«, so beliebt wie nie. Ein im Vergleich zu den genannten eher harmloser Vertreter der Gattung Verschwörungstheoretiker war Rechtsesoteriker und Internetberühmtheit Dr. Axel Stoll. MARTIN SPIESS über das Interviewbuch ›Muss man wissen!‹ von Alexander Waschkau und Sebastian Bartoschek

Erfolgreicher Spätzünder

Menschen | Zum Tod des Autors Hans Werner Kettenbach Für einen überaus erfolgreichen Schriftsteller fand Hans Werner Kettenbach erst ungewöhnlich spät den Weg zur Literatur, aber eigentlich ist er immer ein Spätzünder gewesen. Erst im Alter von 28 Jahren fand er einen Beruf, mit dreißig heiratete er, sein Studium schloss er mit 36 Jahren ab, und seinen ersten Roman veröffentlichte er kurz vor seinem 50. Geburtstag. Ein Porträt von PETER MOHR

Nacktes Grauen selbst erlebt

Menschen | Karl Marlantes: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Als Karl Marlantes 1968 für die USA in den Vietnamkrieg zieht, hat er die typischen Motive der meisten Soldaten: Er will seine Männlichkeit beweisen, er will raus aus dem Einerlei, sehnt sich nach etwas »Höherem«. Nicht nur mit Tapferkeitsorden kommt er zurück – seine Lebensbilanz »Was es heißt, in den Krieg zu ziehen« sucht nach einem Moralkodex für Kriege. Hochaktueller Stoff für hier und heute, wo es wieder mal nach einem Sieg säbelrasselnder Dummheit riecht. Von PIEKE BIERMANN

Einer der letzten großen Erzähler

Menschen | Zum Tode von Siegfried Lenz Siegfried Lenz war einer der letzten großen Geschichtenerzähler, ein stilsicherer Traditionalist, ein schriftstellerisches Urgestein, das ganz der Kraft des Erzählens vertraute und zum Meister der »kleinen Tragödien« avancierte. Lenz neigte stets zum nordischen Understatement, war ein verbaler Leisetreter – sowohl in seinen Büchern als auch in seinen Äußerungen als öffentliche Person. PETER MOHR zum Tode des Schriftstellers Siegfried Lenz.

Erzähler und Versöhner

Menschen | Zum Tode des SChriftstellers Ludwig Harig »Kein Zweifel, er ist unter den Lebenden nicht nur der bekannteste, sondern auch der beste saarländische Schriftsteller. Wer dies behauptet, setzt keinen anderen herab«, hatte Ludwig Harigs saarländischer Landsmann Oskar Lafontaine schon vor 25 Jahren völlig zutreffend in der ›Zeit‹ geschrieben. In den letzten Jahren war es – dem Alter geschuldet – etwas ruhiger geworden um den literarischen Tausendsassa aus dem Saarland. Ein Nachruf von PETER MOHR