/

Exzentrischer Außenseiter

Menschen | Zum 25. Todestag des Nobelpreisträgers Elias Canetti

War er Romancier, Dramatiker, Philosoph oder Anthropologe? War er ein Genie oder ein Neurotiker? Ein hochdekorierter Autor ohne Lesergemeinde? Vielleicht sogar der erste Popstar der Literaturszene? Die Wahrheit liegt (wie so oft) irgendwo auf halber Strecke. Die Rede ist vom Literatur-Nobelpreisträger Elias Canetti. Von PETER MOHR

Als 1934 Elias Canettis literarischer Erstling, der Roman ›Die Blendung‹ erschien, urteilte der angesehene Hermann Broch: »Ein Junggenie betritt die literarische Bühne. Canetti besessen von seiner dichterischen Mission, geistiger Draufgänger und Weltumstürzler, also von allen möglichen und wertvollen Qualitäten.«

Elias Canetti, der am 25. Juli 1905 in Ruschtschuk (Bulgarien) geboren wurde, verbrachte eine kosmopolitische Kindheit und Jugend an ständig wechselnden Orten. Er lernte zunächst als Sohn jüdischer Eltern Bulgarisch und Spanisch, es folgten in wenigen Jahren Englisch, Französisch und Deutsch. Die ersten beiden Lebensjahrzehnte glichen einer wahren Odyssee, aber schon früh offenbarte er ein großes Talent und wurde ob seiner Wissbegierde von den Mitschülern »Sokrates« genannt.

Als Teenager schrieb er das fünfaktige Trauerspiel ›Junius Brutus‹ – das älteste erhaltene literarische Werk Canettis. In Wien, wo er zunächst Chemie studierte, lernte er Robert Musil, Hermann Broch, Franz Werfel und Alban Berg kennen. Doch das prägendste Erlebnis für den Nobelpreisträger von 1981 war die erste Begegnung mit Karl Kraus, Canettis ›Fackel im Ohr‹. In dessen Dunstkreis lernte er auch seine erste Frau, die sechs Jahre ältere Schriftstellerin Veza Taubner-Calderon kennen.

Doch die Beziehung zu Veza, die 1963 starb, glich einer emotionalen Achterbahnfahrt. Canetti unterhielt nebenbei unzählige Liebschaften, mal im Verborgenen, mal kokettierte er öffentlich damit. Der Nobelpreisträger und sein Verhältnis zu Frauen – eine wahrhaftig unendliche und noch wenig beleuchtete »Geschichte«. Möglicherweise lag es an der Rolle seiner dominanten Mutter und an seiner zwergenhaften Physiognomie, dass er in seinen Beziehungen vor allem eines anstrebte: Macht ausüben. Ob Anna Mahler, die Schriftstellerin Iris Murdoch oder Ehefrau Veza, mit der er mehr als 30 Jahre »auf dem Papier« verheiratet war, der philosophische »Macho« zeigte keinerlei Taktgefühl, wenn er über seine Beziehungen schrieb oder in den Londoner Partykreisen schwadronierte.

Bei Canetti waren Leben und Werk gleichermaßen exaltiert und egozentrisch. Schon vor Vezas Tod hatte er die 28 Jahre jüngere Schweizer Restauratorin Hera Buschor kennengelernt. 1971 heiratete das Paar, Zürich wurde zum neuen Lebensmittelpunkt, ein Jahr später (Canetti war 66) kam Tochter Johanna zur Welt. Der Greis überlebte auch seine zweite Frau, die 1988 an Krebs starb.

Nach Erscheinen seines hochgelobten, aber zunächst nur wenig verkauften Debütromans ›Die Blendung‹ verfiel Canetti in eine Schreibkrise. »Da ist von Don Quichotte bis Doktor Faustus alles drin«, urteilte kürzlich der Wiener Schriftsteller Robert Menasse über diesen sperrigen Roman um den egomanen Büchernarren Kein, der am Ende sich selbst und seine Bibliothek in Brand setzt.

Im Londoner Exil fing Canetti vieles an, verwarf es wieder und sammelte so Tausende von Manuskriptseiten an. Als Essenz daraus erschien sein monumentales, philosophisch-essayistisches Lebenswerk ›Masse und Macht‹ (1960). Obwohl ihm Nietzsches Werk zuwider war, ist Canettis Affinität zur »geistigen Macht«, sein unbeugsamer, geradezu missionarischer Eifer, andere Personen zu »Delegierten seines Lebens« machen zu wollen, ein signifikanter künstlerischer und auch privater Charakterzug.

Canetti - Masse und Macht Elias Canetti war ein begnadeter Selbstinszenierer, ein Vortragskünstler von hohen Gnaden, der z. B. bei Lesungen aus seinen Theaterstücken »mehrstimmig« auftrat. Er liebte das Bad in der Menge, genoss es, wenn ihm das Publikum andächtig an den Lippen hing, und wünschte sich nichts sehnlicher, als »noch in 100 Jahren gelesen zu werden.«

Nachdem er in den 1960er Jahren auch im deutschsprachigen Raum endgültig Fuß gefasst hatte, ließ er kaum eine Möglichkeit aus, öffentlich zu provozieren. Bitterböse Polemik führte ihm oft die Feder. Nichts war ihm heilig, nicht einmal der einstige Übervater Karl Kraus, den er als »Goebbels im Geiste« und »ungebildet wie Hitler« bezeichnete; Adorno war das »ekelhafteste Beispiel eines Philosophen«, und Dürrenmatt attestierte er »Einfälle plump wie in Schulaufsätzen«.

Elias Canettis Name steht für zwanghaft selbst auferlegte Individualität, für völligen intellektuellen Nonkonformismus eines egomanen Querdenkers. Sein 1960 erschienenes Buch ›Masse und Macht‹ kommentierte er mit den Worten: »Es ist mir gelungen, dieses Jahrhundert an der Gurgel zu packen.« Und die Nachwelt würgt an einem gewaltigen literarischen Kloß, der auf Dauer schwer verdaulich bleiben wird.

Am 14. August 1994 ist Elias Canetti, der begabte Selbstdarsteller und hochintelligente poeta doctus, in Zürich gestorben. Mehr noch als sein Werk werden die Legenden, die sich um seine Vita ranken, immer weiterleben.

| PETER MOHR
| TITELFOTO: Unknown, Elias Canetti 2, CC BY-SA 3.0 NL

Titelangaben
Elias Canetti: Ich erwarte von Ihnen viel
Briefe. Aus dem Nachlass herausgegeben von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger
Carl Hanser Verlag, München 2018,
864 Seiten, 42 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
| Leseprobe

Elias Canetti: Aufzeichnungen
Carl Hanser Verlag, München 2016
978 Seiten, 14,99 Euro
| Erwerben Sie dieses eBook portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Mikrokosmos Schwimmbad

Nächster Artikel

Flottierende Gedanken

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Istanbuls Schicksal ist mein Schicksal

Menschen | Zum 70. Geburtstag des Nobelpreisträgers Orhan Pamuk

»Es geht in diesem Prozess gar nicht um meinen Roman, sondern um Ideologie«, hatte Nobelpreisträger Orhan Pamuk Ende des letzten Jahres in einem Interview erklärt. Mehrmals hatte ihn die Staatsanwaltschaft zum Verhör einbestellt, nachdem die große türkische Tageszeitung ›Hürriyet‹ eine regelrechte Hetzjagd gegen den Schriftsteller inszeniert hatte. »Was bezweckt Orhan Pamuk damit, dass er Atatürk verhöhnt? Will er einen Aufruhr anzetteln? Will er dem Ausland eine Botschaft senden?«, lauteten die rein rhetorischen Fragen des Chefredakteurs Ahmet Hakan nach Erscheinen von Pamuks letztem Roman »Die Nächte der Pest«, der sich mehr schlecht als recht zwischen dichterischer Fiktion und politischer Allegorie hin- und herquälte. Von PETER MOHR

Klare fotografische Ansagen

Sachbuch | Scott Kelbys Reisefoto-Rezepte

Dieses Buch – so der Autor, dessen Ratgeber seit Jahren weltweit in Sachen digitaler Fotografie und für Adobe-Produkte am meisten verkauft werden – schreibe er so, als wäre er mit Ihnen allein unterwegs, irgendwo, an einem »fantastischen Ort«, zum Beispiel Paris. Das klingt doch gut. Den ganzen »technischen Kram« wolle er dann weglassen. Wie das geht und ob es funktioniert, das hat sich BARBARA WEGMANN in dem Buch angeschaut.

Poesie des Scheiterns

Menschen | Zum 80. Geburtstag des Schriftstellers Volker Braun »Was erwartet ihr von mir? Widerspruch. Widersprüchliches werdet ihr hören«, heißt es im jüngst erschienenen Aphorismenband ›Handstreiche‹. Volker Braun hat stets die leisen Töne bevorzugt, das klassenkämpferische verbale Gepolter war nie seine Sache: kluge philosophische Sentenzen hat er stets gepaart mit einem untrüglichen Gespür für gesellschaftliche Veränderungen – so auch in ›Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer‹ (2008). Darin setzte er sich mit den gravierenden Veränderungen im Arbeitsalltag und dem Verschwinden vieler industrieller Arbeitsprozesse auseinander. Ein Porträt von PETER MOHR

Musik aus der Geisterstadt

Musik | Interview mit Jan Kerscher aka Like Lovers Explosiv, chillig, emotional und vor allem: ehrlich. Like Lovers bringt sein Debütalbum heraus. MARC HOINKIS unterhielt sich darüber mit dem Maestro höchstpersönlich.

Volles Risiko

Menschen | Marie Jalowicz Simon: Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945 Wer heute zu seinem Chef geht und sagt: »Ich möchte entlassen werden«, hört allenfalls, dass er Hartz IV und den sozialen Abstieg riskiert. Marie Jalowicz riskiert ihr Leben, warnt der Hallenleiter bei Siemens, als sie ihm im Frühsommer 1941 damit kommt. Sie ist Jüdin, Zwangsarbeiterin, sie darf nicht kündigen, sie kann nur entlassen werden. Er versucht ihr abzuraten, verweist auf die relativ geschützte Umgebung, die Kolleginnen: »Da draußen sind Sie ja allein in der Eiswüste.« Sie entgegnet: »Ich will in die Eiswüste, und ich will allein sein.«