/

Agonie

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Agonie

Der Planet leidet Todesqualen.

Du übertreibst, Susanne.

Sagt Gramner.

Gramner lebt zwei Jahrhunderte vor unserer Zeit. Er kann das nicht wissen.

Sein Gespür ist untrüglich.

Gespür, was ist das, Susanne.

Manchmal, Tilman, denke ich, wir gehen mit geöffneten Augen durch die Welt, ohne überhaupt irgendetwas zu sehen, verstehst du, kann ja sein wir verwechseln das Leben mit einem Bildschirm, und Gramner, ein welterfahrener Mann, Walfänger und Koch auf Scammons ›Boston‹, versteht unsere sogenannte Moderne weit besser als du oder ich.

Susanne schenkt Tilman und sich Tee ein. Der zierliche Drache auf der Kanne ist blaßgrün und schmückt auch die Tassen und Untertassen, was für ein liebenswertes Geschöpf. Auf Tilmans Tasse ist er rostrot, und es gäbe ihn auch schwarz. Doch Susanne ist froh, daß Tilman sich beim Kauf für eine Farbe entschieden hat, sie hätte sich auch über Blau gefreut.

Du übertreibst, Susanne.

Der verhängnisvolle erste Schritt auf den Irrweg, sagt er, sei die Ablösung des Segelschiffs durch den motorgetriebenen Dampfer gewesen.

Ich kenne Gramners Haltung, er hat ja recht. Anstatt sich in die Kräfte der Natur einzufügen, beute der Mensch ihre Schätze aus, um sich zum Herrscher aufzuschwingen. Das kann nicht gutgehen, Susanne, der Mensch muß da heraus, besser heute als morgen.

Vorbei, Tilman, es ist vorbei. Zwei Jahrhunderte Industrialisierung und technologische Revolutionen zeitigen verheerende Resultate, die Probleme sind dem Menschen über den Kopf gewachsen.

Der Mensch redet sich ein, er sei Herr des Geschehens.

Der Planet liegt im Sterben, Tilman. Die radioaktiven Rückstände aus Ölbohrungen machen weite Regionen unbewohnbar, ein aktuelles Beispiel ist Kasachstan. Das radioaktiv verseuchte Kühlwasser in Fukushima kann nicht länger gelagert werden, und der Betreiber Tepko plant, es kurzerhand in den Pazifik zu entsorgen. Beispiele ohne Ende, Tilman. Der Planet steht in Flammen – Buschfeuer in Australien, Waldbrände in Kalifornien, im Regenwald Brasiliens. Schlammvulkan Lusi auf Java. Wirbelstürme richten verheerende und irreparable Zerstörungen an. Gewässer steigen über ihre Ufer, Böden sinken großflächig ab, Djakarta ist nicht zu halten – willst du mehr hören?

Ich kenne die Beispiele, Susanne.

Das Chaos ist angerichtet, Tilman, der Planet liegt im Sterben. Oder präzise formuliert: Das Leben verabschiedet sich von der Erde. Der Planet wird selbstverständlich nach wie vor um die Sonne kreisen, unsterblich, Tilman, ein Jahr für Jahr sich erneuernder kosmischer Rhythmus, das ägyptische Jahr begann im Sommer mit der Nilflut und vollzog, verkörpert in Re, die nicht endende zyklische Wiederholung, und die andere ewige Dauer, diejenige des unwandelbar Vollendeten, verkörpert Osiris; diese Balance blieb gewahrt.

Zu Zeiten der Apokalypse beschäftigt dich der Gedanke an Ewigkeit?

Wer Augen hat, zu sehen, erkennt die tödlichen Qualen des Planeten, er leidet unter fiebriger Hitze, seine Atmosphäre unterliegt einer schleichenden Vergiftung, seine Kruste trocknet hier aus oder wird überflutet dort, schon verstummt der Gesang der Vögel, die verbliebenen Lebewesen flüchten sich in vermeintlich stabile Regionen.

Beruhige dich, Susanne. Tilman beugt sich vor und schenkt Tee nach.

Stabile Regionen gibt es nicht länger, das hochempfindliche Gleichgewicht des Lebendigen ist uns verloren gegangen, Tilman. Gramner hat recht, wir sind Zeugen, während der Planet vor unseren Augen alles Leben verliert.

Fünf vor zwölf, ich stimme dir zu.

Nein, Tilman, es ist aus, aus und vorbei. Die technologischen Revolutionen hinterlassen unsäglichen Schaden, die Zustände liegen jenseits aller Erfahrung, und sieh nur darauf, wie auch der Mensch verändert wird.

Hör auf, Susanne, genug, wechsle das Thema.

Hochleistungszwänge, Selbstausbeutung, Burn-out, Depression – der Mensch wird zum Zerrbild seiner selbst. Die Opioid-Krise in den USA rafft ihn zu Tausenden dahin und wurde als Gesundheitspolitik annonciert. Sogar mit der eigenen Sprache belügen und täuschen wir uns. Sage du mir, wie das enden soll.

Susanne schenkt Tee nach.

| WOLF SENFF
| Titelfoto: Budhiargomiko, Wasteland, CC BY-SA 4.0

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Moralische Instanzg

Nächster Artikel

Dicke Freundschaft zwischen Groß und Klein

Weitere Artikel der Kategorie »Prosa«

Nichtstun

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Nichtstun

Ob es Feigheit sei, fragte sich Thimbleman.

Eldin legte einen Scheit Holz nach, die Flammen schlugen hoch.

Der Ausguck tauchte aus der Dunkelheit auf und setzte sich neben Thimbleman.

Crockeye wandte sich entnervt ab. Was hatte der Ausguck immer mit seinem Salto.

Die späte Moderne sieht bedrohliche Zeiten auf sich zu kommen, sagte LaBelle, wer hätte da keine Angst.

Der Panikmodus greift um sich, sagte Rostock.

Nicht unser Problem, sagte Bildoon, unser Thema ist die Verwahrlosung der Stadt San Francisco, die Gesetzlosigkeit, die Flut der Goldgräber.

Homo sapiens

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Homo sapiens

Rausch, sagte Gramner, verbreite sich als ein Nebel im Hirn, und nur so sei der Wahn halbwegs zu erklären, der den Menschen befalle.

Der Ausguck stutzte. Spricht er über die Goldgräber?

Nicht wirklich, sagte Pirelli, er rede über den Menschen der Moderne.

Wir leben noch nicht in der Moderne?

Nicht wirklich, sagte Pirelli, die Moderne liege in ihren Geburtswehen, die Dampfschiffahrt setze sich eben erst gegen die Windjammer und Segelschiffe durch.

Berlin

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Berlin

Berlin, erinnerte sich Rostock, Berlin liege gar nicht weit entfernt von seiner Heimatstadt, er habe von Bremerhaven aus den Atlantik überquert und in Nantucket ausgemustert.

So sei es vielen ergangen, sagte London, die Überfahrt war strapaziös, und an der Ostküste habe man in Nantucket gleich anheuern können, denn die Jahrzehnte des amerikanischen Walfangs brachen an.

Was es auf sich habe mit Berlin, fragte Bildoon, weshalb, die Stadt liege auf der anderen Seite des Planeten, was kümmere ihn das.

Es sei eine andere Zeit, sagte Pirelli, von Walfang sei dort keine Rede mehr.

Am Toten Meer

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Am Toten Meer

Gramner hatte noch nie vom Toten Meer gehört, was sollte das sein.

Ein Salzmeer? Ach was, rief er, jedes Meer sei ein Salzmeer, und sofern keine Wale zu harpunieren seien, gäbe es gar keinen Grund, dort auf Fang auszufahren.

Ein Binnenmeer auf der anderen Seite der Erdkugel, schmaler als die Sea of Cortez und bei weitem nicht so lang?

Um nichts in der Welt würde er sich dort aufhalten wollen, sagte Gramner, zumal auf dem Toten Meer, wie es hieß, keine Schiffe verkehrten, also bitte, die Geschichte vom Walfang sei auserzählt, Punkt, Schluß.

Leben

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leben

Ob das schwer zu verstehen sei.

Gut gefragt, Farb.

Doch sei das nicht jedem bekannt.

Das sollte man annehmen.

Der Mensch müsse sich ändern, Tilman, grundlegend ändern, nicht nur daß er seine Energieversorgung neu gestalte, nein, er müsse sich in seinem Umgang mit dem Planeten neu orientieren, er tue sich schwer damit und habe die Tragweite dieser Umwälzung längst nicht hinreichend verarbeitet.

So wird es sein, Farb.