Aus dem Nähkästchen geplaudert

Jugendbuch | Riad Sattouf: Esthers Tagebücher

Esther erzählt aus ihrem Leben. Frisch, frech, selbstbewusst. Kein Thema, das nicht irgendwann irgendwie irgendwo aufploppt. In die »geheime Welt einer Jugendlichen« einzutauchen, fand ANDREA WANNER ungemein spannend.

Der Buchrücken des ersten Bandes war rot, mintfarben der des zweiten und jetzt leuchtet der Rücken von Esthers Tagebuch Band 3 in sattem Dottergelb. Wer Esther noch nicht kennengelernt hat, kann und sollte das Nachholen. ›Mein Leben als Zwölfjährige‹ heißt der aktuelle Band, auf zehn Bände insgesamt ist das »humoristisch-dokumentarische« Werk angelegt, mit dem Riad Sattouf das Erwachsenwerden der Tochter eines Freundes begleitet.

In einem Spiegel-Interview hat er dazu verraten: »Ich lasse mir von ihr einfach ihre Sicht auf die Welt erklären. Sie erzählt mir aus ihrem Alltag und von ihrem eigenen Planeten, etwa so, wie es ein Alien machen würde. Ich mache mir Notizen und daraus wachsen dann Geschichten. Esthers Notizbücher sind für mich wie ein Reiseführer in die Kindheit.«

In der französischen Satirezeitschrift ›Charlie Hebdo‹ erschien Sattoufs vielgelobte wöchentliche Serie ›La vie secrète des jeunes‹, für die der den Alltag von Jugendlichen in Paris verarbeitete. Nun erscheinen ›Les Cahiers d’Esther‹ wöchentlich auf einer Seite des französischen Nachrichtenmagazins ›L’Obs‹.

Auch in Frankreich gibt es sie als Sammelbände – der Nachteil der Bände auf Deutsch: es dauert, bis der Band voll UND übersetzt ist. Bei tagesaktuellen Ereignissen ist das schade. So reagieren Esther, ihre Familie, ihre Klassenkameraden und ihr Umfeld auf die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten – das liegt jetzt doch immerhin schon 3 Jahre zurück (und das Katastrophenszenarium seiner Wiederwahl beschäftigt uns heute). Und ein zentrales Thema ist die französische Präsidentschaftswahl – von 2017. Der Vorteil: die wenigstens werden L‘Obs lesen und die – wirkliche gute Übersetzung – ist viel wert.

Aktuelle Themen lassen sich auch im Nachgang nochmals reflektieren. Und vieles ist absolut zeitlos. Um was es geht, verraten die kompakten Überschriften über den jeweils einseitigen Comics: Die Bilanz; Die Kritik; Die Krankheit; Die Jungs und die Mädchen; Das Attentat; Der Terroralarm; Der Homosexuelle… Nichts, was es nicht gibt in den 52 in sich abgeschlossenen Bildergeschichten, für jede Woche des Jahres eine.

Die Reihenfolge ist bunt gemischt, mal politisch, mal persönlich, mal ein Traum, mal philosophisch. Esther, eine dünne, biegsame Figur mit langen, schwarzen Haaren immer mittendrin. Sorgfältig ausgearbeitet jedes Einzelbild, umfangreiche Captions, perfekt umgesetztes Lettering auch in der deutschen Ausgabe. Ja, man muss viel lesen. Und ja, es lohnt sich, jeder Satz, jedes Wort.

Esther äußert sich auch zu den Bildergeschichten über ihr Leben: »Es zeigt mein Leben sehr realistisch (Geschmäcker, neue Frisuren, Freundes- und Liebesbeziehungen von uns jungen Leuten)«, aber sie muss doch auch manches zurechtrücken. Spannend zu beobachten ist die Entwicklung des Mädchens, mit zehn noch kindlich und einem Rest Babyspeck, trotzdem schon aufgeweckt, neugierig auf die Welt und die mit Fragen an die Eltern wie beispielsweise »Ach übrigens, weiß eigentlich einer von euch, was das, ›JUUHPOHRN‹«? diese in totale Verlegenheit bringt.

Die als 11jährige für Wirbel sorgt (auch wenn sie nach eigenen Angaben das, was auf dem Titelbild zu sehen ist, nie gemacht). Und als 12jährige uns schon gespannt darauf warten lässt, wie sie sich wohl weiterentwickelt, wie offen und freizügig ihre Informationen über sich, ihre Gedanken und Gefühle, ihr Leben bleiben werden.

Und jahreszeitlich passend noch eine kleine inhaltliche Einstimmung: »Der Weihnachtszauber« heißt die Story, in der die zwölfjährige Esther davon erzählt, warum sie Weihnachten so mag. Sie tut es in Listenform. Auf Platz 1 steht der Weihnachtsbaum, gefolgt von dem staunenden Gesicht ihres kleinen Bruders, wenn er den Baum sieht. Platz 3 nimmt der Wunschzettel ein: »Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir ein iPhone 7, weil mein iPhone3 ist doof. Nein, war ein Scherz, ist viel zu teuer. Ich freu mich über alles.«

Mein Leben als Zwölfjährige
Mein Leben als Zwölfjährige
(Abb: Reprodukt)

Es folgt die Begeisterung für die Spielzeugwerbung im Fernsehen, Platz 4. Ihre Aufzählungen der wundervollen Weihnachtsdinge gehen weiter, auf Rang 8 steht das heimliche Untersuchen der Geschenke im elterlichen Kleiderschrank … Und schließlich – schließlich will sie nicht unbescheiden wirken – als Letztes, Platz 11, das Auspacken der Geschenke. Tja, und da gibt es eine echte Überraschung.

Für alle, die sich die nicht entgehen lassen wollen, sind ›Esthers Tagebücher‹ – Band 1, 2 und/oder 3 – wunderbare Geschenke unter dem Weihnachtsbaum. (Band 4 erscheint dann im März).

| ANDREA WANNER

Titelangaben
Riad Sattouf: Esthers Tagebücher
Mein Leben als Zehnjährige (2017) (Leseprobe)
Mein Leben als Elfjährige (2018) (Leseprobe)
Mein Leben als Zwölfjährige (2019) (Leseprobe)
Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock
Handlettering von Hartmut Klotzbücher
Berlin: Reprodukt
Je 56 Seiten, je 20 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren

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