Jugendbuch | Jennifer Niven: Stell dir vor, dass ich dich liebe
Der Blick in den Spiegel dient der Vergewisserung des eigenen Selbst. Was aber, wenn man Probleme mit dem hat, was man da sieht? Zwei Teenager wissen davon ein Lied zu singen. Von ANDREA WANNER
Libby ist eigentlich ganz zufrieden mit dem, was sie da im Spiegel sieht. Knapp 90 Kilo wiegt sie und ist damit alles andere als zierlich. Aber immerhin hat sie bereits 140 Kilo abgenommen. Davor wurde das Video, wie »Amerikas fettester Teenager« mit 296 Kilo mit einem Kranen aus dem eigenen Haus befreit wurde, von über sechs Millionen Menschen angeschaut.
Eine schlimme Zeit liegt hinter Libby, die nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter als sie zehn war, den Weg zurück in die Welt nicht mehr gefunden hat. Gründe dafür gab es viele. Jetzt hat sie Therapien hinter sich, ihr Essverhalten unter Kontrolle und ist im Prinzip bereit, sich der Welt in Form der High School wieder zu stellen. Aber sie ahnt, dass der Weg für sie kein leichter werden wird.
Wenn Jack in den Spiegel schaut, muss er es genau tun. Umständlich setzt er das, was er sieht zusammen. Dabei sieht er gut aus, kommt bei Mädchen an und hat – wenn auch etwas zweifelhafte – Freunde an der High School. Jack leidet an Prosopagnosie, der sogenannten Gesichtsblindheit, d.h., er kann ihm bekannte Personen nicht an ihren Gesichtern erkennen, nicht einmal die eigenen Eltern und Brüder. Er braucht Hilfskonstrukte, einzelne Gesichtsmerkmale oder die Stimme. Mit Frisur und Kleidung kann es schwierig werden, wenn die andere Person diese ändert. Jack schlägt sich alleine mit seiner Krankheit herum, keiner weiß davon. Er hat Strategien, um damit im Alltag klarzukommen – nur funktionieren die leider nicht immer zuverlässig.
Jacks Status an der High School ist unbestritten, zumal er seit vier Jahren, unterbrochen von Beziehungspausen mit Caroline zusammen ist, einem der angesagten und wunderschönen Mädchen der Schule, die er allerdings auch nur schwer von ihren Freundinnen unterscheiden kann. Die Rolle, die der neuen Schülerin Libby zugedacht wird, ist nicht schwer zu erraten. Leute, die anders sind, werden gerne zu Opfern gemacht. Nur lässt sich Libby das nicht gefallen. Zu mühsam war ihr Weg bis zu diesem Punkt.
Das Aufeinanderprallen von Jack und Libby, das relativ wörtlich zu nehmen ist, lässt Welten kollidieren. Libbys »Problem« ist offensichtlich, das von Jack zeigt sich in teilweise unerklärlichem Verhalten. Und jetzt? Sie erfahren die Geschichte des jeweils anderen – und verstehen im Gegensatz zu vielen anderen das Problem. Das ist ein erster, behutsamer Schritt in etwas, das sich keiner von beiden zunächst vorstellen kann.
Jennifer Niven hat bereits in ›All die verdammt perfekten Tage‹ eine herzzerreißende Teenagerliebe beschrieben, die zum internationalen Bestseller wurde. Jetzt trifft cooler Junge auf dickes Mädchen und wir ahnen, wohin das führt. Da ließe sich jetzt durchaus einiges kritisieren und anzweifeln. Aber Niven macht das insgesamt doch sehr geschickt: Abwechselnd lässt sie die beiden zu Wort kommen, Dinge zurechtrücken, reflektieren, Pläne schmieden, träumen.
Nein, es geht letztlich nicht um die Probleme, die sie haben, auch wenn die Geschichte das von der ersten bis zur letzten Seite behauptet. Es geht eher darum, wie sie mit ihrer jeweils eigenen Geschichte im Mikrokosmos Schule zurechtkommen. Und ganz eigentlich ist es einfach nur seine sehr romantische Liebesgeschichte mit Hindernissen. Manchmal reicht ja auch das.
Titelangaben
Jennifer Niven: Stell dir vor, dass ich dich liebe
(Holding up the Universe, 2016). Aus dem Amerikanischen von Maren Illinger
Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2017
456 Seiten, 14,99 Euro
Jugendbuch ab 13 Jahren
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