Bilderbuch | Hans Christian Andersen: Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen
Märchen sind oft brutal, denn sie bilden auf ihre Art die Wirklichkeit ab. Da wird munter ermordet, gestorben, Kinder werden ausgesetzt oder versucht zu essen … Nicht nur die Volksmärchen, sondern auch die Kunstmärchen. So wie das Mädchen mit den Schwefelhölzchen, die versucht, in der Silvesternacht noch etwas Geld zu verdienen. Von GEORG PATZER
Das ist wohl eines der grausamsten und schrecklichsten Märchen, die es gibt: Da muss ein kleines Mädchen in der Silvesternacht in die Kälte hinaus, um Schwefelhölzer zu verkaufen. Als es aus dem Haus geht, hat es noch die Pantoffeln ihrer Mutter an. Aber als sie über die Straße läuft und zwei Wagen ausweichen muss, verliert sie sie. Und nun steht sie im Schneegestöber, mit nackten Füßen und ohne Mütze. Niemand kauft ihr etwas ab, niemand schenkt ihr etwas, aus Mitleid mit dem frierenden Mädchen.
Sie kauert sich in eine windgeschützte Ecke, weil sie sich nicht nach Hause traut, ohne einen Cent eingenommen zu haben: Der Vater würde sie nur schlagen. Und kalt ist es zu Hause auch, und die kleinen Hände waren fast starr vor Kälte. Um sich ein bisschen zu wärmen, reißt sie ein Schwefelhölzchen an: „Ritsch! Wie es sprühte, wie es brannte! Es war eine warme helle Flamme, wie ein kleines Licht, als es die Hände darüber hielt. Es war ein wunderbares Licht! Es schien dem kleinen Mädchen, als säße es vor einem großen eisernen Ofen mit blanken Messingkugeln und einem Messingrohr. Das Feuer brannte so schön und wärmte so gut!“ Aber dann, grade als das Mädchen die Füße ausstreckt, um sie am Ofen zu wärmen, geht das Schwefelhölzchen aus.
Noch eines entzündet sie und sieht ein Zimmer mit einem gedeckten Tisch mit Gans, Äpfeln und Backpflaumen, die Gans ist gespickt mit Messer und Gabel und rennt auf das Mädchen zu. Und es erlischt. Noch eines: Sie sieht den herrlichsten Weihnachtsbaum. Und noch eines, und ihre Großmutter erscheint: „Nimm mich mit!“ ruft das Mädchen… Wir kennen das Ende: Das Mädchen liegt erfroren im Schnee.
Die Illustrationen sind düster und gleichzeitig grellfarbig stechend: Blaugefrorene Zehen stapfen durch eine schwarze Doppelseite, ein angedeutetes Mädchengesicht starrt den Leser an, ein schwarzes Haus im dunklen Schneegestöber ist zu sehen, auf den Stromleitungen hocken kleine schwarze Punkte wie wartende Krähen, und in einer Nische lodert ein rotes „whoosh!“ nach oben. Selbst die schönen Traumbilder sind nicht beruhigend: Die Gans stolziert in blutroten Hosen und Stulpenstiefeln und mit einer Riesengabel wie mit einem Speer durch das Bild. Und am Schluss lächelt zwar das spitznäsige Mädchen, wie im Märchen: „Aber im Winkel des Hauses saß in der kalten Morgenstunde das kleine Mädchen mit roten Wangen und lächelndem Munde – tot, erfroren am letzten Abend des alten Jahres.“
Aber vor ihr ist ein einziges rotes Linienchaos, aus dem es spritzt und spuckt, Fragmente von Haus und Essen und Mensch fliegen am rechten Rand ins Nichts. Bis die Großmutter am Schluss ihre Arme weit öffnet, die roten Haare hart vom Kopf nach oben spitzend, und einen riesigen Mantel ausbreitet. Sehr grafisch sind die Illustrationen, nichts wird beschönigt, nichts romantisiert, sie zeigen ungeschönt die brutale Wirklichkeit. Als wenn auch die Farben und Formen sich noch einmal aufbäumten, wie die Schwefelhölzchen, bevor sie zum Verlöschen verurteilt sind.
| GEORG PATZER
Titelangaben
Hans Christian Andersen: Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen
Illustriert von Kveta Pacovska
Richtenberg: Verlag Michael Neugebauer 2019
32 Seiten, 10 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren