Ein fürsorglicher Tigervater und ein kleines Vögelchen

Kinderbuch | Nele Brönner: Das Tigerei

Erziehung hat immer so seine Tücken. Da kommt der Tiger plötzlich zu einem kleinen Kind, noch dazu einem piepsigen Vögelchen, und dem bringt er natürlich als erstes das Fauchen und Brüllen bei. Böse sieht es aus. Aber ein kleines Vögelchen ist nun mal kein Tiger. Wie mag das bloß ausgehen? Von GEORG PATZER

Nele-Brönner - Das-TigereiNa, das ist ja eine Überraschung. Eben noch schleicht Hermann, der Tiger, übelgelaunt durch sein Reich. Erschreckt aus Langeweile die Fische, ärgert sich über die Gnu-Nachbarn, die sich schon wieder laut darüber streiten, wer der Stärkere ist, dass er nicht mal mehr in Ruhe frühstücken kann.

»Wieso bin ich immer nur von Angebern umzingelt?«, knurrt der missmutige Tiger und legt sich, um wenigstens ein bisschen Ruhe zu haben, auf das Dach des Tigerhauses. Da prallt etwas an seinen Kopf. »Frechheit, wer wagt es!«, faucht er wütend. Ihn, den Tiger, zu bewerfen. Unglaublich. Aber dann schaut er nach, was ihm da zwischen seine Pfoten rollt, und das ist kein Stein, keine Nuss. Überhaupt kein Wurfgeschoss. Ein Ei. Tatsächlich: ein Vogelei. Und das, obwohl weit und breit kein Nest und keine Vogeleltern zu sehen sind.

Also beschließt Hermann, auf das kleine Ding aufzupassen, und als es Nacht wird, legt er seine flauschige Schwanzspitze vorsichtig darum, damit ihm auch ja nichts passiert. Am nächsten Tag bastelt er aus Halmen und den weichsten Haaren aus seinem Brustfell ein kleines Nest, das er in einem Busch in seinem Gehege versteckt. Und dann schlüpft tatsächlich ein kleiner Vogel aus diesem »Tigerei«.

Tiger Hermann ist allerdings kein allzu guter Vater. Ein bisschen verantwortungslos, aber nicht aus bösem Willen, sondern weil er es einfach nicht besser weiß. Immerhin leckt er das Vogeljunge behutsam trocken und füttert es mit Grillen, Käfern, Engerlingen, Raupen, Mücken, Würmern, Spinnen und einer Zecke. Der pinkfarbene Affe von gegenüber schaut schon ganz neugierig. Aber Hermann will sich ihm lieber nicht anvertrauen. Auch den Enten nicht: Die sehen doch etwas verdächtig aus, findet er.

Am nächsten Tag will das Vogelkind mit auf die Jagd. Nein, nein, das geht nicht, zu viele Feinde lauern da. Und ihn greifen sie ja nicht an: »Vor meinem fürchterlichen Tigergebrüll erzittern alle«, sagt er stolz. Und weil der kleine Vogel es lernen will, bringt er es ihm bei: »Stell dich genauso hin wie ich, die Beine breit, die Augen zusammenkneifen und sehr böse gucken – tief Luft holen: Jetzt das Maul weit auf und so laut du kannst: ROOOAAAAAARRRR!« Und schon ist aus dem fürsorglichen Tiger eine Bestie geworden, mit riesigen, spitzen Zähnen, einem weit aufgerissenen Maul, scharfen, tödlichen Krallen und mörderisch blitzenden Augen. Da fällt auch der kleine Vogel vor Schreck vom Nestrand: »Das war super«, piept er. Und probiert es selbst: »Tschip!« Und will gleich wissen, ob er auch gut war, ein richtig gefährlicher Tiger: »Hermann nickt und grinst.«

Nele Brönner hat sich diese abstruse Geschichte ausgedacht, wie sie wohl in jeder Familie passieren könnte: Kinder zu erziehen, ist nicht so einfach. Immer mal wieder sagt man das Falsche und muss dann mit den Konsequenzen leben. Denn wie alle Kinder probiert auch das (Vogel)Kind alles Mögliche gleich aus. Und so brüllt (bzw. piepst) das Vogelkind nicht nur die winzigen Ameisen an, die natürlich in einer Reihe umfallen, sondern auch den riesigen Pelikan. Der ist allerdings vom »TSCHIIIIIEEEEP!« nicht besonders beeindruckt und reißt seinen Schnabel weit auf. Sträubt seine Federn, sein Hals wird lang, seine gierigen Augen starren das kleine Vögelchen an. Mit viel Glück geht alles gut – aber der Vogel ist jetzt überzeugt, unbesiegbar zu sein, wenn er brüllt. Und jetzt muss sich der Tiger überlegen, wie er das wieder ins Lot bringt.

Naiv und mit kräftigen schwarzen Streifen auf dem gelben Fell ist der große brüllende Tiger gezeichnet, in feinen Strichen das »Tigervögelchen«, und überall, im Hintergrund und neben den Tieren, wuchert ständig ein expressiver Dschungel in allen schillernden Farben, übereinander und mit schwingenden Formen.

Eine einfache Geschichte ist Brönner gelungen, mit dem alten Thema, wie zwei unterschiedliche Wesen sich anfreunden oder miteinander leben können, nur dass es hier der Vater, der eigentlich Erfahrenere, ist, der es erst mal verbockt. Aber das macht sie ohne moralischen Zeigefinger, und am Ende kommt noch ein Schlenker, wenn der Tiger brummt: »Morgen sage ich es ihm. Heute war so schon ein aufregender Tag.« Ob er das wirklich macht?

| GEORG PATZER

Titelangaben
Nele Brönner: Das Tigerei
Zürich: NordSüd Verlag 2018
32 Seiten. 15 Euro
Bilderbuch ab 4 Jahren
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