Der Kinderkalender für das Jahr 2025 begeistert wieder mit phantasievollen, märchenhaften, realistischen, witzigen, pfiffigen Gedichten und Illustrationen aus aller Welt. GEORG PATZER hat schon einmal vorgeblättert.
Drei Lieblingsblätter habe ich sofort gefunden: In der Woche vom 24. März den »Baum« von Bruno Munari:
l’esplosione
lentissima
di
un
seme
(»die unendlich langsame Explosion eines Samenkorns«): Riesige Blätter ragen von rechts oben in das Bild, vorsichtig, sacht. Gelblichgrüne Oliven scheinen durch die Blätter, Ein waagerechter Strich deutet unten die Erde an, ein winziger Baum streckt seine vielen Äste in die Luft, gelblichgrüne Punkte leuchten wie kleine Lichter, und sein lila Spiegelbild tut es ihm nach. Eine geniale Umkehrung von Groß und Klein.
Und das allerletzte Blatt, dessen Gedicht von Jules Renard (Renard heißt übrigens übersetzt Fuchs!) über den Raben nur im lautmalerischen Original funktioniert:
Le corbeau
– Quoi? quoi? quoi?
– Rien.
(– Was? Was? Was? – Nichts.) Ein blauschwarzer Rabe sitzt mit aufgesperrtem Schnabel im Schnee vor einer vom Wind zum Fragezeichen gebogenen Weide, acht Krähenfußstapfen sind zu sehen, im Hintergrund schroffen sich Berge und kahle Bäume aus der Winterlandschaft.
Und das spanische Gedicht von Fran Pintadera im Oktober:
Noch ehe das erste Herbstblatt den Boden berührt,
fliegen wir fort.
Gepäck brauchen wir fast keins –
die Farbe unseres Gefieders genügt,
um nicht zu vergessen, wer wir sind.
Zu sehen ist eine Frau mit einem Vogelkopf in einem taubenblau gepunkteten Kleid und meeresblauen Schuhen mit einem weißen Streifen. Sie hat einen kleinen orangenen Koffer mit einem feuerroten Bändchen in der Hand und steht auf einem Stuhl – zum Abflug bereit.
Mit genial einfachen, kindlich verspielten, abstrus erzählten, witzigen, märchenhaften Gedichten und Illustrationen aus vielen Ländern und in vielen Sprachen verzaubert der Kinderkalender jedes Jahr aufs Neue. Da rät der Portugiese Richard Zimler: »Bewahr die Ruhe, mein Lieber, / Raten dir Igel und Biber« und besänftigen den rot angelaufenen Jungen von zwei Seiten mit ihren vorsichtigen Tatzen. Es fragt der Tscheche Jaromír Plachý: »Benützt das Tapirtier … Klopapier?« Und antwortet gleich selbst: »Ja, es benützt es. Aber was nützt es.« Und zeichnet vier Comicbilder dazu, auf denen das Tier seinen langen Rüssel in die Rolle steckt, von immer mehr Fragezeichen umgeben. Und drin steckenbleibt. Das lettische Gedicht »ein anderer Platz« von Zebers erzählt die einfache und aufschlussreiche Geschichte eines Mädchens:
es war einmal
ein kleines,
sehr höfliches Mädchen,
das seinen Platz im Leben hatte,
doch eines Tages
stand es auf
und gab ihn jemand anderem.
Das Foto zeigt eine Puppe, mit einem lila, einem blauen Strumpf, neben sich einen Stuhl. Der jetzt freigeworden ist, weil sie sich ein neues Leben gewählt hat.
Lee Sihyang erzählt vom koreanischen »Frühlingsblumenfotografen«, der zwischen »Hirtenblumen, Magnolien, Forsythien, Kirschblüten und Löwenzahn« kniet, Schmetterlinge, Bienen und Blütenblätter fotografiert, und auf seinen Kopf »fallen Blütenblätter wie Münzen herab und türmen sich auf.« Mit einem wässrig durchscheinenden Bild erzählt Ilgim Veryeri Alaca aus der Türkei:
Quirlend,
Glitzernd
Funkelnd
Zum Schwimmen locken
In der Stille
Regungslos
Verspielt und naseweis
Das Wasser, Wasser, Wasser
Verblüfft schaut die Vogelmutter sich in Timon Meyers Gedicht um, Eimer und Wischlappen neben sich, denn beim Frühjahrsputz, »wie jedes Jahr, macht die Vogelschar sich rar.«
Immer wieder nehmen die Autorinnen und Illustratoren die Phantasie der Kinder auf, spielen mit unterschiedlichen Sichtweisen und Wirklichkeiten, lassen Flugzeuge mit großen Besen in die Wolken rasen, die Wut als rotes Pferd »hitzig und ohne Hemmungen« davongaloppieren, bis es langsamer wird und sich beruhigt: »Das nutze ich aus und steige ab.« Ein Junge aus Marokko denkt an das Meer, lauscht ihm in der Muschel, wird zu Muschel und Boot und Welle und Wind und Wasser. »Und trinke die Sonne.« So wie es Kinder noch können und manche Erwachsene.
Viel Spaß macht der Kinderkalender dieses Jahr, vielfältig sind die Texte und die Illustrationen, die mal japanische Schulkinder in der Pause zeigen (und die Schulglocke sinniert, dass sie da nur ungern ruft), in einer Collage aus Ecuador einen Jungen in einem Papierboot im Dschungel, in einer Zeichnung zwei Kinder, die in einem Pool planschen. Aus grafischen Elementen ist eine griechische Reifenturnerin konstruiert, flächig malerisch und atmosphärisch tanzen fünf tunesische Kinder mit einer Vogelscheuche unter regenschweren Wolken dahin, und mit Tusche kommen Hunderte E-Striche aufs Blatt, von Ethel und Einar gemalt, die diese Striche so lieben. Es gibt einfache Illustrationen und Wimmelbilder, Comicartiges und Schrilles, Abstruses und Romantisches.
Immer schon war der Kinderkalender unabdingbar und lebensnotwendig für den Lauf des Jahres, jeden Montag durfte man umblättern. Dieses Jahr ist er noch phantasievoller und witziger als sonst. Herausgegeben von der Internationalen Kinder- und Jugendbibliothek in München erschien er viele Jahre im Arche-Verlag, jetzt bei Moritz – nicht zu verwechseln mit dem etwas langweiligen ›Arche Kinderkalender‹.
Titelangaben
Der Kinder Kalender 2025
Mit 53 Gedichten und Bildern aus der ganzen Welt
Herausgegeben von der Internationalen Jugendbibliothek
Frankfurt: Moritz Verlag 2024
25 Euro, Für alle
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