Wölfe legen sich einen Schafspelz um, damit sie ihre gefährlichen Absichten harmlos wirken lassen. Und was tut ein armes Schaf, das sich im Wald unsicher und bedroht fühlt? Richtig! Es näht sich einen Wolfspelz. ANDREA WANNER hatte großes Vergnügen an der Geschichte.
Bellwidder Rückwelzer ist ein genügsames Schaf. Es hat Freude an der eigenen Gesellschaft, amüsiert sich mit seinem Spiegelbild und frisst gern Brombeeren. Daneben mag es den Vogelgesang und den Blumenduft. All diese Dinge gibt es im Wald. Aber der ist gefährlich, denn dort treiben sich Wölfe rum. Aber Bellwidder ist gewitzt und ein wahrer Künstler mit Nadel und Faden. So entsteht ein Gewand, das aus dem friedlichen Tier eine – zumindest äußerlich – Bestie macht, das vor seinem eigenen Spiegelbild zusammenzuckt.
So gerüstet wagt sich Bellwidder ins Freie und trifft tatsächlich auf Artgenossen: Drei Wölfe mit leuchtend gelben Augen und spitzen Zähnen, die sich artig vorstellen: Phillip, Bock und Lamona. Sie laden Bellwidder dazu ein, mit ihnen abends zum großen Feld zu gehen, dort zu tanzen und den Mond anzuheulen. Was bleibt dem armen Kerl anderes übrig, als zuzusagen? Denn zwischenzeitlich hat der Verkleidete ein riesengroßes Problem: sein Kostüm beginnt sich auflösen und damit droht alles aufzufliegen. Eine Reparatur ist dringend nötig, aber als Bellwider die beerensatt verschläft, scheint die Katastrophe unabwendbar.
Sid Sharp erzählt in seiner Geschichte, einer spannenden Gratwanderung zwischen Bilderbuch und Graphic Novel, von der Grenze zwischen Sein und Schein, von Äußerlichkeiten und Oberflächen, die uns daran hindern, das, was hinter der Maske steckt, zu erkennen. Ein weiteres Mal müssen Wölfe als mit Bedeutung aufgeladene Raubtiere, vor denen Menschen und Tiere sich fürchten, dafür herhalten, die Rolle des Bösewichts zu übernehmen. Gefährlich ist die Welt, wenn sie unterwegs sind. Am besten man lässt, wie Bellwidder, das Fenster zu, den Vorhang geschlossen. Denn dort draußen lauert das Schreckliche. Sharp zeigt es, in dem aus dem Grün plötzlich Augen aufblitzen, ein beunruhigendes Schwarz hinter allem lauert, selbst die Zeichnung harmloser gelber Schmetterlinge zu fruchteinflößenden Wolfsaugen und bleckenden Zähnen wird, die Falter selbst zu Riesenmonstern anwachsen. Angst wird spürbar, nachvollziehbar. Das, was da ist, ist unkalkulierbar, kann jederzeit losschlagen.
Sid Sharp spielt in dem Bilderbuchdebüt mit dieser Furcht, lässt sie wachsen, real wirken. Und hat noch einen Trumpf in der Hinterhand, mit dem man nicht gerechnet hat. »Nie wieder verstecken. Nie wieder Angst haben«, war Bellwidders Wunsch, als er in den Wolfspelz schlüpfte. Schauen wir mal, was aus diesem Herzenswunsch, seinem Hunger nach Beeren und seiner Sehnsucht nach Vogelgezwitscher und Blumen am Ende wird.
Titelangaben
Sid Sharp: Der Wolfspelz
(The Wolf Suit, 2022). Aus dem Englischen von Alexandra Rak
Zürich: NordSüd 2023
136 Seiten, 22 Euro
Kinderbuch ab 6 Jahren
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