Neue Subjektivität

Gesellschaft | Peter Engel, Günter Emig (Hg.), Die untergründigen Jahre

 
Niemand zählt noch Epochen. Oh, das fiel Ihnen bislang gar nicht auf? Noch immer scheint ungewiß, ob die Postmoderne abgeräumt ist, und falls ja, seit wann genau, und wo wir uns derzeit befinden. Intelligenz, verkünden die Großfürsten der digitalen Verwirrung, sei jetzt künstlich, und seit neuestem, lesen wir, gibt es lebenden Beton. Na denn. Von WOLF SENFF

Untergruendige JahreMißtrauisch, wie wir sind, zählen wir nach Dekaden. Die Nuller zum Beispiel. Oder, wie in der dieser Tage erscheinenden Publikation von Günter Emig und Peter Engel, die Siebziger – wie auch immer man sortieren möchte, in diesem Fall macht es Sinn. Die Siebziger: eine aufblühende Etappe, die sich selbst als alternativ empfand zwischen den politisch aufgewühlten Sechzigern und den – nach deutschem Herbst und Mogadischu – wieder restaurativen Achtzigern.

Es war gewaltig etwas im Busch in der alten Republik, im Westen, und neben der Anti-AKW-, neben der Friedensbewegung, der Gründung der Grün-Alternativen, der taz, dem Berliner Extradienst etc. blieb möglicherweise einfach nicht genügend Raum, als daß die etablierten Medien damals auch noch die Vielfalt der alternativen Literaturszene angemessen wahrgenommen hätten.

Die Herausgeber präsentieren nun autobiographische Beiträge von dreißig Autoren dieser alternativen Szene; sie schaffen ein vielschichtiges und erfrischend lebendiges Bild eines kurzen, intensiven Abschnitts literarischen Schaffens und einer pulsierenden kulturellen Infrastruktur.

Der Leser erhält Einblick in eine urwüchsige Szene umtriebiger Autoren und ebenso umtriebiger Agenten der Infrastruktur, die trotz chaotischer Außendarstellung reibungslos arbeitete, und zwar, man höre und staune, bei Textproduktion mit Schreibmaschine und per Hektografie. Die Zeitschriften dieser Jahre sind in einem Anhang in alphabetischer Folge aufgelistet – dafür braucht es dreieinhalb Seiten! –, und wenige davon überlebten, u. a. die mittlerweile renommierte Zeitschrift ›Am Erker‹ aus Münster.

Es entstand eine sich spontan und anarchisch organisierende Infrastruktur, man lese etwa die diversen Elogen auf Josef Wintjes, den Herausgeber von ›Ulcus Molle Info‹, dem Mitteilungsblatt und Diskussionsforum dieser literarischen, spirituellen und politischen Gegenkulturszene.

Denn es gab ja nach wie vor die etablierte Literatur mit ihren Autoren. Den üblichen Literaturbetrieb halt. Doch während dieser »untergründigen« Jahre manifestierte sich die Gegenkultur institutionell – die ›Arbeitsgemeinschaft alternativer Verlage‹ veranstaltete einige Jahre lang parallel zur herkömmlichen Frankfurter Buchmesse ihre eigene, alternative Buchmesse, und, spannend zu lesen, es entzündeten sich heftige Konflikte.

Darüber hinaus diverse Aktivitäten: der TUNIX-Kongreß findet in Berlin statt, eine ›Buchhandlung Welt‹ und ein ›Nachtcafé‹ werden in Hamburg gegründet, alemannische Mundartdichtung wird im schwäbischen Raum wiederbelebt, die Mainzer Minipressenmesse entsteht, etc.

Diese Infrastruktur ist eine erstaunliche Leistung, und dennoch bleibt die Frage nach dem genuin literarischen Betrag der »untergründigen« Jahre. Nun kann man zurückrudern und darauf verweisen, daß die vorliegende Publikation ausdrücklich als »Band 1« ausgewiesen ist, es wird schon noch werden.

Doch die Beiträge der beteiligten Autoren sind vielfältig und versäumen nicht, auch auf die Grundzüge einer prägenden Literatur hinzuweisen, für die im übrigen bereits Marcel Reich-Ranicki, die politische Literatur kurzerhand ausklammernd, den Begriff  ›Neue Subjektivität‹ prägte, die sich vor allem in Kurzprosa und Lyrik niederschlug.

Die meisten Autoren nehmen sich als Vertreter dieser literarischen Strömung wahr, als ihr wichtigster Wortführer wird Jürgen Theobaldy genannt, doch selbstverständlich findet der Leser widerstreitende Aussagen, andere Akzentsetzungen und alles in allem eine erfreuliche Vielstimmigkeit, etwa mittels der Beiträge von Wolfgang Bittner oder Martin Jürgens, die gegenwärtig in der politischen Tradition der Siebziger Jahre schreiben, oder im Beitrag von Barbara Maria Kloos, die auf den »Abenteuerspielplatz« jener Zeit zurückblickt und im gegenwärtigen Literaturbetrieb nur noch eine »pädagogische, kapitalismusaffine, staatlich subventionierte Kaderschmiede« erkennt.

Günter Emig und Peter Engel legen eine höchst informative und anregende Textsammlung vor.

| WOLF SENFF

Titelangaben
Peter Engel, Günter Emig (Hg.), Die untergründigen Jahre
Die kollektive Autobiographie ›alternativer‹ Autoren aus den 1970ern und danach
Niederstetten: Günter Emigs Literaturbetrieb 2020
484 Seiten, 20 Euro
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