Dilettantismus

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Dilettantismus

Farb hatte sich nie zum Ziel gesetzt, ein Spezialist zu werden, ein Experte, schon beim jugendlichen Fußballspiel, von dem er erzählte, war er variabel einsetzbar, im Tor habe er eine passable Leistung gezeigt, defensiv habe er seinen Mann gestanden, er habe strategisches Talent bewiesen. In einer Gesellschaft, die Höchstleistung verlangt, in der die Spezialisten gefragt sind und kompromißloses Zupacken als Leitbild propagiert wird, sagte Tilman, habe einer wie er grottenschlechte Karten.

Tilman legte die Stirn in Falten, er überlegte, Farb war eine schillernde Figur, ihr gerecht zu werden, das war nicht einfach.

Susanne sah ihn an und lächelte. Er schenkte für Susanne und für sich Tee nach.

Unsere Sprache ist wichtig, sagte er, die Beschaffenheit der Welt ist eine Frage der Wortwahl, man muß das verstehen, und anders gewendet läßt sich mit Fug und Recht sagen, Farb hatte Freude am Leben, er probierte manches aus und ließ nach einiger Zeit die Finger davon, verstehst du, nicht weil er sie sich verbrannt hätte, nein, er hatte die Freude an der Sache verloren und wandte sich neuen Feldern zu.

Ein Leben ohne Höhepunkte, fragte Susanne.

Tilman zögerte zu antworten, er trank einen Schluck Tee und schwieg.

Das kannst du so nicht sagen, Susanne. Ihm fehlte die Gier, aufzutrumpfen, sich über andere hinwegzusetzen, Konkurrenz hatte für ihn kein Gewicht, sagte er, für ihn zählte die Freude an der Sache, verstehst du, und sobald sie ihm abhanden kam, war die Sache für ihn gestorben.

Heutzutage ist das ein ungewöhnlicher Lebenswandel, konstatierte Susanne.

Einige Jahre lang spielte er mit Freunden Billard, ein- bis zweimal die Woche, er war eifrig, trainierte an Nachmittagen allein, doch nicht daß er in einen Verein eingetreten wäre. Sie spielten Karambolage in einer Billardhalle der Innenstadt. Auf zwei Tischen am Eingang spielten die Cracks, und ab und zu gesellten sie sich dazu und staunten über die Serien, die gespielt wurden. Farb hörte dort von Marco Zanetti, im TV sah er dessen Finale von 2018 gegen Alessio D’Agata, war fasziniert von der hohen Kunst des Dreibandspiels und wunderte sich sehr, daß zu Hause das Billardspiel so wenig galt, er probierte das Dreibandspiel einige Male aus, doch es setzte hohe Ansprüche, und als er über Zanetti las, einen Paradiesvogel, der im Alter von sieben Jahren zu spielen begann und dessen Vater eine bedeutende Figur in der italienischen Billard-Szene war, trübte das seine eigene Freude, er blieb zurückhaltend und wäre nie so weit gegangen, ein Billardturnier zu besuchen, etwa das Survival 3C Masters in Seoul, dasselbe galt für Musik, für eine Band, die er gern hörte, nein, ein Fan wurde er nie.

Man mag ihm das als Mittelmaß ankreiden, sagte Tilman, doch er würde sich hüten, so über Farb zu denken.

Wenn er doch nichts erreicht hat, sagte Susanne, keine Wettkämpfe, keine Pokale, und war es nicht in seinen politischen Gehversuchen dasselbe?

Er ist ein Dilettant, gewiß, weder er selbst noch andere setzen ihn unter Zugzwang, Sachzwänge kennt er nicht, die Dinge, denen er begegnet, bereiten ihm Freude.

Was hatte es mit dem Suizid auf sich?

Ein Mann, dem er wohl mehrmals begegnet war und der in einem benachbarten Hotel einquartiert war, hatte in seinem Zimmer einen Brand verursacht und war aus dem Fenster gesprungen, man vermutete Selbstmord, nach mehreren Wochen am Salzmeer ist vieles möglich.

Ohne Abschiedsbrief?

Ohne Abschiedsbrief. Auch Farb sprach von Suizid und verbreitete die Neuigkeit gleich am nächsten Morgen im Lager, aber viele Männer trauten ihm nicht, Farb war ihnen zu umtriebig, sie fühlten sich belästigt, es ist heiß unter der Sonne, sie suchen die Stille.

Ein naheliegender Gedanke, sagte Susanne

Wenn er seine Runden im Lager absolvierte, legte er an verschiedenen Stationen einen Halt ein, er händigte Zeitschriften aus, die er einige Tage später wieder einforderte und anderweitig vergab, das war für Farb ein wichtiger Baustein, der ihn auf Trab hielt und seinem Tag Struktur verlieh, verstehst du, und wo er eine Rast einlegte, hatte er Gesprächsstoff, daß ihm die Zeit verging.

Geschäftigkeit als eine Vorstufe von Lagerkoller, stellte Susanne ernüchtert fest.

Er hatte seine Leute, die auf seine Zeitschriften warteten und Artikel daraus lasen, seine Aktivität war nicht vergeudet, sagte Tilman, sondern etablierte sich als Bestandteil des Lagerlebens, solange Farb sich dort aufhielt, jedenfalls versauerte er nicht auf der Dachterrasse seines Hotels.

Ein treuer Kulturarbeiter des Lagers, spottete Susanne.

Du bist herzlos, warf ihr Tilman vor, das Leben im Lager ist nun einmal öde und uninspiriert, da war Farb ein Lichtblick und leuchtete desto heller, es sind viele wie er, die sich am Salzmeer aufhalten, sie drängen sich um einen Platz im Lager, so ist es, du erinnerst dich an Antinous Bellori und seinen Satz: »Wir wissen nichts. Es gibt auch nichts zu wissen.«

Hat dieser Bellori denn je existiert?

Oder Marbot?

Eine fiktive Person. Susanne sah ihn an und lächelte. Er schenkte für Susanne und für sich Tee nach.

| WOLF SENFF

1 Comment

Schreibe einen Kommentar zu TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Leere | TITEL kulturmagazin Antworten abbrechen

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Fotografie als Therapie

Nächster Artikel

Einfach davonfliegen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Lauter letzte Bücher

Roman | Peter Härtling: Tage mit Echo Wieder einmal thematisiert Peter Härtling – ein Meister des biographischen Erzählens – das Getriebenwerden der künstlerischen Existenz. Tage mit Echo hinterlassen einen melancholischen und dennoch tröstlichen Nachhall. Von INGEBORG JAISER

Ausrottung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausrottung

Nein, sagte Termoth, in Kalifornien habe es keine so gravierenden Einschnitte gegeben wie 1832 den Trail of Tears oder 1890 die Schlacht am Wounded Knee, in Kalifornien sei die Ausrottung der Ureinwohner geschmeidig verlaufen, es habe keinen Aufschrei gegeben, und es sei nicht leicht, das Geschehen zu rekonstruieren, zumal die indigenen Stämme bereits von den Spaniern gewaltsam hätten christianisiert werden sollen, doch statt eines Erfolges habe sich Syphilis ausgebreitet und dazu in Epidemien Pocken, Typhus und Cholera, unerfreuliche Mitbringsel der Eroberer – die indigene Bevölkerung, vor der spanischen Missionierung siebzigtausend, sei bis zum Ende der Indianerkriege 1890 um über drei Viertel auf siebzehntausend reduziert worden.

Touste stutzte und spielte einige Töne auf der Mundharmonika.

Thimbleman starrte den Ausguck an.

Crockeye lächelte.

Eldin vergaß den Schmerz in der Schulter.

Krieg und Frieden

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krieg und Frieden

Tilman schenkte Tee nach.

Farb legte sich ein Stück Pflaumenkuchen auf.

An einem ruhigen, milden Nachmittag neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen.

Ob das so alles richtig sei, fragte Anne.

Kitsch, sagte Farb, wir leben ein kitschiges Idyll, gänzlich unzeitgemäß.

Gedenken

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Gedenken

Höchste Zeit, sagte Anne, höchste Zeit auch für eine feministische Kultur des Gedenkens.

Tilman beugte sich vor.

Unser Blick auf die Gegebenheiten hat zu wenig Struktur, sagte Anne, wir gedenken der Opfer des Terrorismus, der Opfer der Mafia, der Opfer von chemischen Waffen, der Opfer von Flucht und Vertreibung, wir etablieren einen Olympia-Tag, einen Tag des Jazz, einen Europa-Tag, das alles ist wichtig nebst vielem darüber hinaus.

Tilman schenkte Tee nach.

Doch bleiben diese Themen nicht letztlich beliebig?, fragte Anne.

Er stellte die Teekanne zurück auf das schlicht weiße, zierliche Stövchen.

Und? Was fehlt?, fragte er.

Johanna

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Johanna

Manches, sagte LaBelle, hast du ständig vor Augen und verstehst es dein Leben lang nicht.

Daß Labelle das Wort ergriff! Thimbleman staunte. Das nächtliche Lagerfeuer in der Ojo de Liebre löste die Zungen, und dafür sei es gut, überlegte er, beim Walfang eine Pause einzulegen.

Er stamme aus Frankreich, sagte LaBelle, in Rouen sei er aufgewachsen, und was ihm sein Leben lang in Erinnerung bleiben werde, sei das Gedenken an die heilige Johanna.

Heilig?, fragte Harmat.

Im Volk gelte sie als der Engel Frankreichs, sagte LaBelle, fünfzehntes Jahrhundert, sie habe das Land von der englischen Besatzung befreit.