TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Moral
Der Planet ist im Begriff, dem Menschen die Gastfreundschaft aufzukündigen.
Er beträgt sich nicht wie ein Gast, oder?
Das wird niemand bestreiten, Tilman.
Keine Frage. Jedoch in der Politik heißt es, so etwas falle unter moralische Fragen, und moralische Fragen seien kein Thema für die Politik, Politik sei die Kunst des Machbaren, der kleinen Schritte. Die Politiker lassen das Thema nicht zu, weil es den Blick öffnet auf grundsätzliche Fragen.
Sie verstecken sich hinter ihren Wissenschaften.
Sie drücken sich um die zugrundeliegenden Probleme herum. Der Mensch soll sich mit einer Maske gegen die Luft schützen, die er atmet? Man könnte glauben, der Planet hätte das menschliche Treiben endgültig satt und werde ihn kurzerhand vor die Tür setzen.
Du bist erfrischend, sagte Susanne, lachte und schenkte für Tilman und sich Tee nach. An einem frühsommerlichen Nachmittag wie diesem saß sie gern plaudernd im Garten, noch bei einbrechender Dämmerung trank sie oft ihren Tee und hörte der Amsel zu, die hoch oben in der Buche ihre Luftschlösser baute.
Nein, sagte Tilman, er führe sich wahrlich nicht auf wie ein Gast. Nehme er Rücksicht auf andere Lebewesen? Davon könne kaum die Rede sein. Pflege er vielleicht die Schätze des Planeten, die ihm ein angenehmes Leben ermöglichen? Nein, er beute sie aus, er plündere sie und hinterlasse verwüstetes Land.
Die Politiker und die Oligarchen gehen über die Reaktionen des Planeten hinweg, sie ignorieren sie, sie wollen nicht verstehen, Susanne, sie leben ja gut von seinen Schätzen, sie sonnen sich in dem Glauben, sie zu besitzen, nach Gutdünken über sie zu verfügen, und wie gesagt, sie leben auf großem Fuß, ihr Ansehen ist enorm, und nun sollen ihnen alle Felle davonschwimmen, undenkbar, nein, auf keinen Fall diese Diskussion, daß man auf den Planeten und auf die Lebewesen Rücksicht zu nehmen habe, auf keinen Fall, in der Politik, konstatieren sie, habe Moral nichts verloren.
Schön, Tilman, das ist die Lage der Dinge. Susanne lächelte und blickte versonnen auf den zierlichen lindgrünen Drachen, sie konnte ihm in die Augen sehen, in denen sich das Sonnenlicht spiegelte.
Corvid-19 ist keine Warnung mehr, kein Signal, umzukehren, keine mahnende Schrift an der Wand, dieser Virus ist ein messerscharfer Schnitt, die Never Ending Tour ist abgeblasen, Spaßgesellschaft war gestern, menschliche Nähe ist passé, man wird Fotos seiner Urlaubsziele genießen dürfen, Filme auf Netflix wecken eine nostalgische Sehnsucht.
Die Vertreibung aus einem Paradies, Tilman.
Und auch wieder nicht. Politikern und Oligarchen ist es über die Jahrhunderte nicht gelungen, ausgeglichene Zustände zu schaffen, sie nehmen das Elend in Kauf, in dem viele Menschen leben, und sind die Nutznießer des Elends.
Sie verschließen die Augen.
Sie verschließen die Augen, während sie selbst aus dem vollen schöpfen. Covid-19 ist, wie es scheint, ein radikaler Zivilisationsbruch. Spaßgesellschaft adieu.
Doch sie werden einen Impfstoff finden, oder?
Das ist möglich, Susanne. Aber längst rollt die Lawine, verstehst du, Dürreperioden stehen bevor, in Afrika werden Nationen von einer biblischen Heuschreckenplage heimgesucht, die Katastrophennachrichten überstürzen einander, da wäre ein Impfstoff zwar hilfreich, doch letztlich wäre er der Tropfen auf einen heißen Stein, eine Atempause, und niemand weiß zu sagen, wie viel Zeit dem Menschen bleibt.
Er muß die Verteilung der Produkte neu organisieren. Meinst du das?
Eine neue Organisation der Versorgung mit Nahrungsmitteln ist überfällig, sie muß jeden erreichen, Nahrung soll wie Wohnen zu den Grundbedürfnissen gezählt werden.
Steigerst du dich da in etwas hinein, Tilman?
Möglich. Die Frist, die uns bleibt, ist kurz, und es gibt regional diverse Beispiele, daß diese Ideen umgesetzt werden, man muß es wollen, Covid-19 ist eine energische Aufforderung, die Welt zu ändern, niemand kann die Dinge lassen, wie sie sind.
Sonst schließt sich die Tür zum Planeten?
Sonst schließt sich die Tür zum Planeten.