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Falsche Signale

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Eine Debatte findet ja gar nicht statt, Susanne, es geht vor allem darum, die Bevölkerung zu beruhigen, hysterische Reaktionen zu vermeiden.

Ist das verkehrt?

Auf keinen Fall. Tilman stand auf, holte den Tee aus der Küche und stellte die Kanne auf das schlichte weiße Stövchen, das ohne den zierlichen lindgrünen Drachen, der das übrige Service schmückte, stets leicht fehl am Platz wirkte.

Eine politische Debatte, wiederholte er, finde nicht statt, man führe eine populärwissenschaftliche Diskussion entlang den Vorgaben der Virologen und lasse sich Tag für Tag mit neuen Daten füttern, er nenne das eine Erbsenzählerei.

Das tägliche Update gewährleiste Transparenz und stehe einer Demokratie gut zu Gesicht.

Von mir kein Widerspruch, Susanne. Tilman beugte sich vor und schenkte Tee nach. Aber könne es sein, fragte er, daß das Gezänk um den Fußball ebenso die öffentliche Debatte dominiert und andere Themen ebenso erstickt?

Du machst Witze, entgegnete sie und lachte. Fußball ist ein Wirtschaftszweig mit Milliardenumsätzen, immer schon die Avantgarde der Globalisierung, des multikulturellen Selbstverständnisses und zutiefst im öffentlichen Raum verwurzelt.

Du hast nicht vergessen, daß die Funktionäre, je höher sie auf der Karriereleiter klettern, desto korrupter sind und in die Nähe mafioser Kriminalität rücken?

Habe ich nicht vergessen, Tilman. Doch darum geht es jetzt nicht.

Sondern?

Es geht um die Fortsetzung eines überaus einträglichen globalen Geschäfts, in dem sich der DFB als eine Speerspitze versteht und mit der internationalen TV-Präsenz allzu gern der Premier League zuvorkommen möchte – das ist Konkurrenz im globalen Kontext, man will sich nationale Märkte sichern und festigen. »Von Los Angeles über London bis Tokio wird darüber berichtet, daß wir wieder spielen.«

Stimmt. Unverblümte Geschäftsinteressen. Da wird schon mal herumgezickt, und im übrigen hält man die wahren Motive am liebsten unter der Decke. Doch letzten Endes ist auch das ein Nebenkriegsschauplatz, Susanne, geschickt inszeniert.

Du wirst es erklären.

Es ist stets dasselbe, Susanne, du weißt es längst, da wird ein Thema hergeholt, abgearbeitet und wieder abgearbeitet und noch einmal abgearbeitet, nur damit bestimmte andere Fragen nicht gestellt werden. Das ist  vorgeschoben, es sind falsche Signale, um der Frage nach den Ursachen auszuweichen.

Die wäre?

Sie ist nicht neu und hat nichts Sensationelles an sich, es geht schlicht um das Verhältnis des Menschen zur Natur. Recht simpel, Susanne, doch offenbar brandgefährlich, weil es Leute gibt, die ihre Existenz gefährdet sehen, sobald diese Diskussion nur aufkommt.

Du erklärst es mir.

Tilman lachte. Du übertreibst, Susanne. Du kennst die Zusammenhänge sehr genau. Du willst mir eine Rolle zuschreiben, die mir nicht paßt.

Vergiß es.

Wie immer man das nennen will, es hat weitreichende Konsequenzen. Sagen wir einfach, es geht um eine friedfertige Koexistenz mit der Natur. Verstehst du, wir verlassen ausgetretene Pfade, wir erfinden uns neu.

Jegliche aggressive Handlung gegen Mitgeschöpfe wäre ausgeschlossen, Tilman, Tiere hätten ein Recht auf ein würdiges Leben, das Plündern und Ausbeuten der Schätze des Planeten wäre tabu – sobald es ins Detail geht, wird es explosiv, und ich kann mir gut vorstellen, welche Mächte auf der Gegenseite stehen werden.

Das ist es, Susanne, in diesem Land versteckt man sich lieber und schiebt unergiebige Themen vor, man hält sich im Hintergrund und schickt seine Stellvertreter – eine Debatte findet nicht statt. Allein schon die Forderung nach aggressionsfreiem Umgang der Menschen untereinander wäre nach derzeitigem Stand der Dinge nicht realisierbar, sie umschließt eine konsequente internationale Abrüstung, staatlich wie privat, Abschaffung der Söldnerheere, die Umwidmung von Rüstungskonzernen, neue Aufgaben für Geheimdienste, weltweit nichtrepressive Arbeitsbedingungen, aber verstehe das bitte richtig, Susanne, es geht zur Zeit weniger darun, diese Dinge von heute auf morgen umzusetzen, sondern es geht darum, das Thema eines aggressionsfreien Umgangs auf die politische Agenda zu setzen, wir verlassen die ausgetretenen Pfade, wir erfinden uns neu.

Schön, sagte Susanne. Sie hielt ihre Tasse in der Hand und blickte versonnen auf den zierlichen lindgrünen Drachen, sie war fasziniert. Das einzige, was ihr weniger gefiel, war die gegabelte obere Verankerung des Henkels, durch nichts motiviert und völlig überflüssig, ein Relikt feudaler Weltsicht, sie würde sich nicht scheuen, das kitschig zu nennen, doch letztlich blieb es hinnehmbar, was wäre ohne Fehl und Tadel, sie schenkte Tee ein.

| WOLF SENFF

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