Mit seiner Reihe um den Dresdener Kriminalpolizisten Max Heller hat Frank Goldammer (Jahrgang 1975) es längst in die Bestsellerlisten geschafft. Band 5 heißt Juni 53 und spielt mit seinem Titel auf die Tage der Arbeiterproteste in der DDR an. Auch in Dresden gehen aufgebrachte Werktätige auf die Straße. Man protestiert gegen kaum erfüllbare Produktionsnormen, Versorgungsengpässe und eine Regierung, die ihre Direktiven gnadenlos nach unten durchdrückt und vor der bedrückenden Realität die Augen verschließt. Dass der brutale Mord im VEB Rohrisolation, den Heller und sein Kollege Oldenbusch aufklären sollen, etwas mit den am 17. Juni in vielen Städten in Gewalt umschlagenden Aufständen zu tun hat, steht für einen mitermittelnden Stasi-Offizier schnell fest. Doch Max Heller verfolgt eine andere Spur. Von DIETMAR JACOBSEN
In einer Lagerhalle des Dresdener VEB Rohrisolation wird die Leiche des Betriebsdirektors gefunden. Man hat den Mann in einem mannshohen, mit Glaswolle gefüllten Pappbehälter einen grausamen Tod sterben lassen. Weil am Tag zuvor, dem 17. Juni 1953, marodierende Jugendliche den Betrieb heimgesucht, Maschinen und Kraftfahrzeuge zerstört, Räumlichkeiten verwüstet und die Betriebsleitung bedroht und angegriffen haben, ist neben den beiden Ermittlern Heller und Oldenbusch von der Dresdener Polizei auch ein Hauptmann des Ministeriums für Staatssicherheit vor Ort. Doch währen Letzterer vor allem nach politischen Ursachen für die Tat sucht, verfolgt Max Heller, Held von inzwischen fünf historischen Kriminalromanen des Dresdener Autors Frank Goldammer, von Beginn an eine andere Spur.
Denn die Verhältnisse in dem Betrieb, der 1928 vom Vater des jetzt ermordeten Werksleiters gegründet und in den ersten DDR-Jahren verstaatlicht wurde, legen den Verdacht nahe, dass die Ereignisse rund um die Arbeiterproteste nur geschickt dazu genutzt wurden, die wahren Motive für den Mord zu verschleiern. Dass es Konflikte nicht nur zwischen Angestellten und Arbeitern des VEB Rohrisolation, sondern bei beiden Gruppen auch untereinander gibt, merken Heller und seine Kollegen schnell. Und so kümmern sich die Kriminalpolizisten, anders als der dem Ministerium für Staatssicherheit angehörende Hauptmann Bech – in dessen Jagd auf »Faschisten und Sozialdemokraten« wird, wenn es sich denn als nützlich erweist, auch eine aus dem Hut gezauberte Aufwieglerin mit Nazi-Vergangenheit einbezogen – um das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen jenen Arbeitern und Angestellten, die schon länger im Werk sind.
Ein Arbeiteraufstand als Alibi
Neben dem Betriebsleiter Baumgart zählen dazu der bei den meisten Arbeitern unbeliebte Parteisekretär Kruppa, der bei innerbetrieblichen Entscheidungen immer das letzte Wort zu haben scheint, und Eduard Reimann, Direktor der Buchhaltungsabteilung und enger Freund des Ermordeten seit Kindheitstagen. Dass die unzureichenden Arbeitsschutzmaßnahmen oder der Umgang mit während des Krieges im Werk tätigen Zwangsarbeitern die grausame Tat motiviert haben könnten, muss Heller bald ausschließen. Denn weitere Morde und Anschläge, in die auch zwei Frauen des den Betrieb leitenden Trios verwickelt sind, führen ihn letztlich zu einem Täter, dessen Motive höchst privater Natur sind.
Juni 53 setzt nicht ganz so auf das Spektakuläre wie der Vorgängerband Roter Rabe (2018). Handlung und Zeitgeschehen rund um die Junitage des Jahres 1953 sind wieder enger miteinander verwoben, auch wenn der Kriminalfall selbst nur wenig mit den historischen Geschehnissen zu tun hat. Die Geschichten des Ehepaars Heller, seiner beiden Söhne Erwin und Klaus, des Ziehtöchterchens Anni und der in Demenz versinkenden Frau Marquart, in deren Haus die Hellers seit Kriegsende leben, werden weitererzählt. Und schließlich geht es letztendlich auch um das Problem, ob es ein Mann wie Max Heller – engagiert, gerecht, beruflich erfahren und politisch immer um Neutralität bemüht – auf Dauer ertragen kann, in einem Land zu leben, in dem man ein neues Gesellschaftssystem zu errichten versprochen hat, sich zu diesem Zweck aber der Mittel bedient, die sich schon ein paarmal in der Geschichte als so gefährlich wie untauglich erwiesen haben.
In die Partei oder in den Westen?
Die Frage, ob er nicht ein Land, in dem Parteizugehörigkeit mehr zu zählen scheint als berufliche Kompetenz, verlassen sollte, um im westlichen Deutschland einen Neuanfang zu wagen, stellt sich Max Heller dabei nicht zum ersten Mal. Noch nie aber war er so kurz davor, dem wachsenden Gefühl, nichts ausrichten zu können in einem Staat, in dem es eher rückwärts als voranzugehen scheint, jeder jeden bespitzelt und es an allem zum Leben Notwendigen mangelt, nachzugeben und mit seiner kleinen Familie Dresden den Rücken zu kehren.
Auch wenn das bedeuten würde, das Häuschen, in dem man nach der 1945er Bombennacht Zuflucht fand und das die Hellers nach dem Tod seiner Besitzerin von ihr geerbt haben, samt der für die Entwicklung ihrer kleinen Ziehtochter so wichtigen heimatlichen Umgebung aufzugeben. Hinzu kommt, dass den Hellers ihr bei der Dresdener Staatssicherheit Karriere machender Sohn Klaus immer fremder wird und Max ständig erleben muss, dass man Nichtgenossen wie ihn bei Beförderungen konsequent außen vor lässt, er doppelt so viel leisten muss wie andere und trotzdem ständiger Beargwöhnung ausgesetzt ist. Wie Goldammer diesen Handlungsstrang schließlich auflöst, ist fast noch eine größere Überraschung als jene, die am Ende der Tätersuche steht, und nährt nicht zuletzt auch die Hoffnung auf ein weiteres Abenteuer des sympathischen Ermittlers.
Titelangaben
Frank Goldammer: Juni 53
München: dtv 2020
364 Seiten. 15,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
Reinschauen
| Leseprobe