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Wurzeln

Von der Terrasse aus blickten sie über die Menckestraße auf das Gohliser Schlößchen, einen geschichtsträchtigen Ort, dessen Deckengemälde ›Lebensweg der Psyche‹ einst von Adam Friedrich Oeser, dem Direktor der Leipziger Zeichenakademie, gestaltet wurde, ein Jahrhundert bevor Scammon in der Ojo de Liebre dem Grauwal nachstellte, wir müssen Wert darauf legen, Zusammenhänge zu erschließen und Abläufe zu ordnen.

Ihr Blick fiel auf das kunstgeschmiedete Tor, das im frühen zwanzigsten Jahrhundert von Gerhards Garten im Clara-Zetkin-Park hierher übernommen worden war, und über den einstigen Wirtschaftshof hin zum zweigeschossigen Mitteltrakt mit dem zierlichen Turmaufsatz, der Kirchtürmen nachempfunden war, so irrt man umher und positioniert sich unter zahllosen Details, der Nachmittag war still, frühsommerlich, Susanne hatte ein Blech Pflaumenkuchen gebacken, Tilman hatte Sahne geschlagen und Kaffee aufgebrüht, sie hatten ihr leicht rustikales, schlicht weißes Service von Pillivuyt aufgedeckt, nun saßen sie im Schatten ihres Rhododendron entspannt auf der Terrasse.

Susanne kannte anspruchsvollere Ausgestaltungen des ›Amor und Psyche‹-Motivs als diejenige im Gohliser Schlößchen, etwa die von Antonio Canova von 1793 im Louvre, sie gingen zurück auf die Erzählung vom Gott und der Königstochter, verfaßt von Apuleius im zweiten Jahrhundert, und hinterließen über die Jahrhunderte hin eine breite Spur, Tilman sah Auguste Rodins Plastik ›Amor und Psyche‹ von 1885 im Musée des Beaux Arts, wir müssen Wert darauf legen, Zusammenhänge zu erschließen und Abläufe zu ordnen.

Adam Friedrich Oeser wurde von Johann W. Goethe weniger als Künstler geschätzt denn als einer seiner wenigen echten Lehrer, der, wie er sagte, »in unsere Seelen« drang, der Wert eines guten Lehrers sei unschätzbar. Goethe war neunzehn, als er 1768 die Stadt wieder verließ, und bis zu Oesers Tod standen sie einander nahe, von Weimar aus vermittelte er diverse Aufträge.

Susanne und Tilman lebten seit einigen Jahren in Leipzig, sie fühlten sich in dieser Stadt verwurzelt, ihr Eindruck war, daß der Charakter dieser Stadt trotz aller Umbrüche beständig blieb, zum Beispiel faszinierte sie die Jugendstiltür eines Eingangs in der Talstraße 10, bei einem ersten Stadtbummel hielten sie minutenlang vor dieser Kunstschmiedearbeit inne: man erkennt einen Gartenweg, der auf eine Vase zuführt, aus der Pflanzen üppig herauswuchern, und Tilman, der im Netz recherchierte, fand heraus, daß dort ein traditionsreicher Musikverlag residierte, die Edition Peters, bei der die Werke Ludwig van Beethovens erstmals publiziert wurden, der Verlag hatte zuletzt die aggressiven Übergriffe der Treuhand überstanden und sagte in diesen Tagen aufgrund der Corvid-19-Krise Veranstaltungen ab, man weiß ja kaum, wie sich der Alltag verändern wird, und erst kulturelle Wurzeln, so empfand Tilman, schaffen Wohlbefinden, sie wachsen in einer balancierten Gemeinschaft.

Nein, Beethoven lebte nie in Leipzig, Goethe suchte ihn 1812 in Karlsbad auf und in Teplitz, sie waren unterschiedliche, gar gegensätzliche Persönlichkeiten, Goethe, so schrieb Beethoven, behage die höfische Luft zu sehr, wohingegen er – »Etwas Kleineres als unsere Großen gibt’s nicht« – selbstbewußt auftrat, und je älter er wurde, desto mehr galt er als ein Misanthrop und ein unkalkulierbarer Choleriker.

Im Museum der bildenden Künste sahen Susanne und Tilman Max Klingers Skulptur von 1902, drei Meter hoch, sie präsentiert Beethoven auf einem würfelförmigen Marmorsockel als einen Titanen der Musik, auf einem Thron sitzend, zu seinen Füßen einen Adler, der zu ihm aufschaut.

Ein solches Kunstwerk faßt dich an, sagte Tilman, es hat eine Aura, Klinger gilt als ein Vertreter des Symbolismus, sie verweilten lange und waren in eine andere Welt getragen, aus der sie endlich ermattet hinaustraten, und nur flüchtig achteten sie noch auf Klingers ›Kassandra‹ und seine ›Badende, die sich im Wasser spiegelt‹.

Auch von Max Klinger, das erzählte Susanne, existierte eine Radierung ›Amor und Psyche‹, er war zu seiner Zeit hochgeschätzt und heute nahezu vergessen, er hatte lange in Leipzig gelebt und verstarb auf seinem Weingut in Großjena, wir müssen Wert darauf legen, immer wieder Zusammenhänge zu erschließen und Abläufe zu ordnen.

Leipzig, resumierte Tilman, sei ein angenehmer Ort zu leben, die Eindrücke seien zahlreich und überwältigend.

Man kenne die Stadt ja kaum, sagte Susanne, sie sei vielfältig, man erlebe sie aus gänzlich verschiedenen Perspektiven.

| WOLF SENFF
| TITELFOTO: Sailko, Antonio canova, psiche rianimata dal bacio di amore, 1788-1793, 02, CC BY 3.0

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Man wird nichts tun können.

Das ist kein guter Anfang, Tilman.

Die Symptome sind vielfältig, und es ist unsere Welt, die leidet, ausnahmslos leidet, Farb, jeden Gedanken an Schonräume kannst du vergessen, nein, vorbei, da ist nichts, kein Schutzzaun, nirgends.

Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Das Service mit dem Drachenmotiv war aufgedeckt, rostrot, Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Annika legte ihre Zeitschrift beiseite.

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Unerklärlich, sagte Farb, aus welchen Gründen eine unscheinbare Begegnung tief im Gedächtnis haften bleibt.

Tilman rückte näher an den Couchtisch und suchte eine entspannende Sitzhaltung.

Anne schenkte Tee ein.

Ein alter Mann am Strand von En Bokek, sagte Farb, ein Greis, hoch in den Siebzigern, die Schwefelquellen südlich von En Gedi seien, hatte der Mann erklärt, so hochprozentig wie sonst nirgends auf dem Planeten, er suche sie zweimal wöchentlich auf, sagte er, er habe viele andere Orte kennengelernt, kein Vergleich, sagte er, nicht daß er lange Reden hielt, er wirkte wortkarg, seine Sätze blieben kurz, die Stimme leise, unaufdringlich, und zusätzlich, sagte er, arbeite das besondere Klima, er kenne keinen Ort, der dem auch nur annähernd gleichkomme, der Mann redete nachdenklich, besonnen, und nein, das würde kein Gespräch, nein.

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TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Transfer

Vor Jahren war es üblich gewesen, vom Ben Gurion via Jerusalem zu fahren, Lassberg war Mitte dreißig gewesen, sein erster Aufenthalt, damals führte die Strecke am Ölberg entlang, die Jericho Road am östlichen Hang des Kidrontals, im Rückspiegel die Mauern der Altstadt, das Goldene Tor, steinübersäte Gräberfelder.

Gesetzt, fragte Lassberg, das Tote Meer trockne aus?

Das sei eine Gefahr, versicherte der Fahrer. Jedoch habe es immer Perioden gegeben, da seien die Ufer zurückgewichen, und wiederum andere, da sei der Pegel gestiegen. Solle er sich aufregen, fragte er entrüstet, weil das Meer sich während des vergangenen Jahrzehnts zurückgezogen habe, einen Meter pro Jahr? Einen Meter? Dieses Meer habe Jahrtausende überdauert, es sei ein Juwel auf dem Planeten.

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Was das denn für ein Auftritt gewesen sei, fragte Farb, und wer den Breuer überhaupt eingeladen habe, sollen wir daraus klug werden und müssen wir uns abgrenzen.

Unmöglich, sagte Wette.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Annika warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Farb strich die Sahne auf seinem Kuchen langsam und sorgfältig glatt.

Wette schwieg.

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Nein, so verhielt es sich nicht, weiß Gott nicht, Ramses konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

Was bildeten sich diese Leute nur ein, diese Walfänger, und gab es nicht diese aufdringlichen fremden Gelehrten, die die Grabruhe störten, vor wenigen Jahren anläßlich einer preußischen Expedition nach Ägypten, wie nannten sie sich, Archäologen, sie begründeten hochtrabend eine Ägyptologie und waren keinen Deut besser als jene Grabräuber, gegen die er einen aufsehenerregenden Prozeß hatte führen lassen, also bitte.

Wer hatte überhaupt die Erzählung in die Welt gesetzt, daß er zerstückelt worden sei, davon kann keine Rede sein, er sei, so wird erzählt, von seinem Bruder Seth, dem gewalttätigen Gott und Rivalen um die Krone, nicht nur getötet worden, sondern grausam zerteilt, und Ramses war darüber über alle Maßen erbost, ein Jack the Ripper, sagte er, ja, gewiß, der habe im fernen London gewütet, man wolle bitte die Kirche im Dorf lassen, und daß herausgeschnittene Organe des Osiris und restliche Glieder in den Nil geworfen und durch die Strömung weithin verteilt worden seien – welch blühender Unsinn, eine Räuberpistole.