/

Im Übergang

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Im Übergang

Der lineare Aufstieg ist ein Trugbild.

Wovon redet er, fragte Mahorner,

Gramner sucht ein Sinnbild, das die Geschichte des Menschen widerspiegelt, sagte Pirelli.

Rostock lachte. Der Mensch tritt auf der Stelle?

Wenn es bloß so wäre, erwiderte Gramner.

Ist es nicht, fragte Rostock erstaunt.

Gramner fürchtet, sagte Pirelli, daß der Mensch sich zugrunde richtet.

Linearer Abstieg, spottete Rostock und war fröhlich.

Geht es uns nicht gut hier auf Scammons ›Boston‹? Harmat war irritiert. Daß wir mit dem Goldrausch in der Stadt nichts gemein haben, sagte er, das müssen wir schätzen.

Harmat hat recht, sagte Bildoon.

Ich fühle mich bestens hier in der Ojo de Liebre, sagte der Ausguck, und genauso geht es dem Grauwal.

Bildoon lachte. Eldins Schulter schmerzt noch, sagte er, und solange die Fangpause dauert, hat der Teufelsfisch Ruhe vor uns.

Gramner redet nicht über unsere Gegenwart, sagte Pirelli. Der Goldrausch, sagt er, bereite das Fundament für eine Zeit, die sich als Moderne bezeichne.

Mutig, sagte Mahorner, sich Moderne zu nennen.

Das werde kaum ein gutes Ende nehmen, sagte Thimbleman.

Der Ausguck blickte sehnsüchtig zum Strand.

Es ist ein Sog, versteht ihr? Der Rausch wird nicht nachlassen, sagte Gramner, er gibt nicht frei, sondern zieht tiefer hinein. Wir leben in Jahren des Übergangs, sagte er, und es seien noch Lücken, sich dem übermächtigen Sog zu entziehen. Das weite Meer sei solch ein Ort, sagte er und rief Gemälde von Gustave Courbet in Erinnerung, einem Zeitgenossen, dessen diverse Gemälde des Meeres einen Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens bildeten.

Rostock gähnte. Wenn es gar nichts zu tun gab, war auch wieder Streß.

Er malte nur das Meer, versteht ihr, sagte Gramner, alles übrige zählte nicht während jener Phase, als er sich in Etretat aufhielt, ungefähr zu unserer Zeit, er verließ das Meer endgültig im Jahr 1869.

Courbet war ein wenig sympathischer Mensch, ein Aufschneider, ein Prahlhans, er wollte Mittelpunkt sein, war imposant, von kräftiger Statur, und er setzte sich durch, er löste das romantische Malen durch Realismus ab, nüchtern, urwüchsig, und in gewisser Weise war er ein Prototyp der Moderne, rastlos, unbekümmert fordernd, verlangend, sein Publikum vereinnahmend, nein, ich möchte ihm nicht begegnen, ein abstoßender Charakter.

London konnte das gut nachempfinden, insgeheim verglich er ihn mit Crockeye.

Er war überaus produktiv, das Malen, vielleicht läßt sich das so beschreiben, es belebte und trieb ihn an wie eine Sucht, sein berühmtes großformatiges ›L’immensité‹ bildet einen Blick auf das Meer ab, das Meer wirft keine dramatischen Wellenkämme, keine Gischt schäumt auf, der Horizont bleibt niedrig, eine starke Ruhe liegt über dieser Meereslandschaft, eine friedliche Stimmung, weltabgewandt, alle Anzeichen menschlichen Lebens sind ausgespart, keine Boote, keine Fischerkate. Der Himmel ist bewölkt, doch die Wolken sind wenig bewegt, wahrscheinlich ist Nachmittag, neben dem Glanz der Sonne liegt schon ein sanfter rötlicher Schein der Dämmerung auf einem Wolkenstreifen.

Eldin gesellte sich zu den Männern. Pirelli rückte ein Stück zur Seite. Eldin lächelte. Die verletzte Schulter schien manche Härte in ihm zu lösen.

La Mer orageuse - Gustave Courbet

Was bleibt, ist Natur. ›La mer orageuse‹ ist aufgewühlte Brandung, eine mächtig stürzende Woge, am Strand zwei Boote, vom Wind getriebene Wolken, stürmisch bewegtes Meer – Courbet verzichtet auf sanfte Farben, er zeigt rohe Natur, nein, wenig Stimmung, versteht ihr, der Mensch tritt gänzlich zurück, und man hat den Eindruck, versteht ihr, in diesem Respekt vor den Gewalten der Elemente tritt eine Persönlichkeit des Künstlers zutage, die dem öffentlichen Auftreten Courbets diametral widerspricht, ihr versteht, sagte Gramner, die Dinge sind kompliziert, diese Gemälde bieten eine Zuflucht.

Es handelt sich um Gemälde, wandte Mahorner zweifelnd ein.

Weltabgewandt, ich sagte das, eine Möglichkeit, sich dem Sog zu entziehen, und schon zu Zeiten Courbets wurde Kunst eine Vermögensanlage, die Mechanismen der Ökonomie auf die Spitze treibend, mit Gefahren verbunden und den wechselnden politischen Machthabern ausgeliefert, Courbet war in revolutionäre Wirren verwickelt und starb im schweizerischen Exil.

| WOLF SENFF
| TITELBILD: Gustave Courbet artist QS:P170,Q34618, La Mer orageuse – Gustave Courbet, als gemeinfrei gekennzeichnet

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Koketterie und Emanzipation

Nächster Artikel

Zwischen Apokalypse, Dystopie und Mummenschanz

Weitere Artikel der Kategorie »Prosa«

Kein Bedarf

TITEL-Textfeld |Wolf Senff: Kein Bedarf

Das läßt sich nicht abstreiten, sagte Tilman, sie finden uns einfach nur langweilig.

Sicher?

Tilman nickte, stand auf und schenkte Tee nach.

Sterbenslangweilig, bekräftigte er, und sie haben ja recht, niemanden drängt es nach dieser Spezies.

Aber unser Planet, wandte Anne ein, unser Planet ist ein Paradies.

Tilman lachte. Dieser Planet war einmal ein Paradies, sagte er, der Mensch ist für ihn eine Heimsuchung. Wir leben in den Tagen der Vertreibung, spottete er, und haben das selbst zu verantworten.

Der Mensch will das Leben genießen.

Einwohnen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Einwohnen

Kirchen, Kathedralen, Dome seien zu Hotspots des Tourismus geworden, sagte Tilman, kein Aufenthalt in Paris ohne Notre Dame, kein Rom-Aufenthalt ohne den Petersdom, absolviert in einer Reisegruppe nebst sachkundiger Führung.

Farb kam aus der Küche und schenkte Tee nach, Yin Zhen, die ersten Märztage brachen an, die Temperaturen waren leicht winterlich, doch die Sonne schien, in einem warmen Pullover hätten sie sich beinahe schon auf die Terrasse setzen können.

Anne nahm einen Keks.

Tilman rückte näher an den Couchtisch.

Zerbrechlich

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zerbrechlich

Sensible Systeme sind störanfällig.

Ist hinlänglich bekannt.

Nur daß ungern darüber geredet wird, Tilman, schon gar nicht öffentlich.

Beim Ausbruch des Vulkans Hunga-Tonga-Hunga-Ha'apai in der Südsee riß an zwei Stellen ein wichtiges Unterseekabel ein, mit dem nahezu alle digitalen Informationen einschließlich Telefon- und Internetkommunikation übertragen werden, die internationalen Verbindungen mit Tonga sind seitdem gekappt, man muß sich das ausmalen, es werde Wochen dauern, den Schaden zu beheben, ein Kabelreparaturschiff sei unterwegs, die Dinge gestalten sich kompliziert.

Nachtstücke

Prosa | Charles Dickens: Reisender ohne Gewerbe Wer Dickens sagt, meint so gut wie immer dickbäuchige Romane. Seit Kurzem gibt es aber – wohl zur Feier seines 200. Geburtstags am 7.2.2012 – in der »textura«-Reihe des C.H. Beck Verlages einen schmalen Band mit dem Titel Reisender ohne Gewerbe, in dem die Übersetzerin Melanie Walz sieben journalistische Arbeiten des späten Dickens erstmals auf Deutsch herausgegeben, kommentiert & mit einem aufschlussreichen Nachwort versehen hat. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Ultimativ

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ultimativ

Auch dieser Konflikt hat seine Regeln, Farb.

Tilman schenkte Tee ein und nahm einen Keks.

Einer ist der Schurke, die anderen sind gut?

Mag sein, Farb, aber das spielt keine Rolle.

Ich denke, doch, Tilman.