Leichen zu zergliedern, ein ungewöhnliches Thema, ob es mit Organspenden zu tun habe, das habe den Menschen immer schon beschäftigt, weshalb, man möchte darüber gar nicht nachdenken, sagte Sut, die Tatsachen seien abgründig, bewegten sich in erschreckend anderen Welten, stellt euch vor, man versetzte uns in ein anatomisches Theater, wie es einst üblich gewesen sei, ein Aufreger, Anatomie als ein Erkenntnisvorgang, die Zergliederung einer menschlichen Leiche als schauriges Event inszeniert, wohlige Gänsehaut, andere Zeiten, andere Sitten, ein kollektives Todesspektakel.
Sanctus konnte keine Sekunde länger zuhören.
Sogar Crockeye wandte sich ab.
Ekelhaft, sagte LaBelle.
Eldin legte einen Scheit Holz in die Flammen.
Sanft klang das Rauschen des Ozeans.
Der Ausguck stand auf, tat eilige Schritte und flüchtete sich in einen Salto.
Nein, der Mensch habe keine Macht über seine Träume, sagte Sut, sie können ihn heimsuchen, ein seelisches Beben, aus dem er ohnmächtig, hilflos, erschüttert aufwache.
Die dunkle Seite der Wirklichkeit, sagte Pirelli.
Ein übler Traum, sagte Sut, versetzt in das siebzehnte Jahrhundert, Mitteleuropa, blutrünstiger Forschungsdrang, zergliederte Leichen, nicht nur von Hingerichteten, denn das Angebot war knapp, die Nachfrage groß, die Forscher taten sich um unter den sozial Deklassierten, den Gefängnisinsassen, in Waisenhäusern, suchten eifrig nach Leichnamen von ledigen Müttern und deren Kindern.
Ein Albtraum, gewiß, man möchte das nicht glauben, der dich durch ein anatomisches Kabinett führte, in diversen Universitätsstädten waren derartige Kabinette eingerichtet, in ihnen wurden konservierte Körperteile ausgestellt, Köpfe, Häute, Knochen, Föten, Arme, eine grauenvolle Sammlung, elende individuelle Schicksale, Szenen von Geburt, von Sterben, ein Leichnam aufgebahrt zur populären Zergliederung, ›Rolfincken‹ genannt, im Anatomischen Theater, der Leichnam noch zugedeckt, um das zum Event geladene, interessierte vornehme Publikum eine Zeitlang noch vor dem widerwärtigen Gestank zu schützen.
Sut erzählt heute keine unterhaltsame Geschichte, sagte Bildoon und war enttäuscht.
So kennen wir ihn nicht, sagte Harmat.
Das sei der Beginn der medizinischen Wissenschaft gewesen, versteht ihr, sagte Sut, die frühe Anatomie habe sich, hemmungsloser Forscherdrang, der Leichname aus verarmten Schichten des Volkes bemächtigt, die Körper zergliedernd, die separierten Teile, Organe, Köpfe, Arme, Hände präpariert, konserviert und in Naturalienkabinetten ausgestellt, eine pathologische Sammlung, als europäisches Kulturgut dargeboten, man möchte es nicht glauben, stellt euch das vor: anatomische Museen in Berlin, St. Petersburg, Paris, Florenz, Wien – der Bedarf an Leichnamen wuchs ungeheuer, man möchte das nicht wissen, es war eine auf Anatomie spezialisierte Kriminalität entstanden, marchands de cadavre in Paris, body snatcher in den USA, eine widerwärtige Kumpanei zwischen Milieus des Todes und medizinischem Interesse, eine häßliche Tradition, die bruchlos bis in die Moderne zu den plastinierten Leichnamen der Körperwelten-Ausstellungen führt.
LaBelle zitterte, obwohl in dieser idyllischen Lagune subtropische Temperaturen herrschten, was redete er, nein, Sut mutete ihnen diesmal allerhand zu.
Ihr glaubt es nicht, es ist die Gegenwart, sagte er, ein aufgeklärtes Publikum strömt in Scharen, sagte Sut, sieben Ganzkörperpräparate mit Einschußlöchern am Hinterkopf, wie schaurig schön, dreißig Tonnen Tote und Leichenteile importiert aus Nowosibirsk und Bischkek seien, einträgliches Geschäft mit dem Tod, als Rohmaterial an das Plastinationsinstitut in Heidelberg geliefert worden.
Ein nahtloser Übergang vom Geschäft der Henker im siebzehnten Jahrhundert, sagte Sut, den Herren über die Leichname, über die Zergliederer der Anatomie bis hin zur wissenschaftlichen Medizin, die die Organentnahme betreibe.
Verstehst du, was er sagt, fragte Bildoon.
Er rede über die Zukunft, sagte LaBelle, wir haben damit nichts zu tun.
Ruhe!, zischte Thimbleman.
Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.
Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit.
Die Weißkittel, sagte Sut, entnähmen den noch warmen, im Sterben liegenden Patienten Organe.
Sut ignoriere die Grenzen von Raum und Zeit, sagte Tilman.
Woher denn jetzt Tilman, Tilman gehört nicht hierher, er hält sich in Simatai auf und wird in wenigen Tagen auf der Großen Mauer am Halbmarathon teilnehmen. Wie auch immer, er hat ein waches Auge auf das Geschehen in der Ojo de Liebre.
Er wolle sich nicht einmischen, sagt er, er wolle keine Ratschläge erteilen, sagt er, sein eigenes Jahrhundert, das einundzwanzigste, sei im Begriff, den Karren unbeirrt noch immer tiefer in den Morast zu fahren und merke es nicht, er werde das ein andermal erklären, zur Zeit habe er den Halbmarathon im Kopf.
Annika lächelt, sie sitzt auf ihrer Terrasse im lieblichen Gohlis und trinkt aus ihrer zierlichen Tasse vom Ming-Service mit dem lindgrünen Drachen.
Wie du es drehst und wendest, sagte Sut, nun wieder Sut, Zeitgenosse der Goldgräber und Walfänger, Ojo de Liebre, der Mensch verabschiede sich von der Natur und vom Leben.
Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.
Der Ausguck setzte sich.
Was hatte der kleine Wichtigtuer sich nur mit seinem Überschlag, grübelte Crockeye.
Wer einen Hirntoten zergliedere oder ihm ein Organ entnehme, erklärte Sut, vergehe sich an einem Sterbenden, und wer dem Toten ein Organ entnehme, begehe Leichenschändung. So oder so, der Mensch verlasse die Übereinkünfte der Natur.
Wovon er rede, fragte Bildoon.
Von der Zukunft, sagte London.
Ruhe!, zischte Thimbleman.
Sut sei empört über das, was den Menschen erwarte, sagte Eldin.
Hundert Jahre, ergänzte Pirelli, dann werde das Hirntodkonzept durchgesetzt, das sei der Fortschritt.
Ob es nicht anders ginge, fragte Crockeye.
Die Dinge seien verwirrend, sagte Harmat, er verstehe das nicht.
Der Mensch müsse eine Wende einleiten, bevor es zu spät sei, sagte Mahorner, davon rede Sut.
Meine Heimat ist das Meer, sagte LaBelle.