Legenden, Lügen, Selbstbetrug

Roman | Bov Bjerg: Serpentinen

Auf den ersten Blick mag man Bov Bjerg für einen skandinavischen Autorennamen halten. Doch es ist das Pseudonym eines nahe Göppingen aufgewachsenen deutschen Schriftstellers, der Landschaft und Milieu seiner Werke wohl aus eigener Erfahrung kennen könnte. Nach dem Überraschungserfolg von Auerhaus und dem Erzählungsband Die Modernisierung meiner Mutter folgt nun mit Serpentinen eine düstere Roadnovel, die dennoch den Ausblick auf Hoffnung und Zuversicht zulässt. Von INGEBORG JAISER

Ein Mann tourt mit seinem siebenjährigen Sohn über die spätherbstliche Schwäbische Alb, in Schlangenlinien rauf und runter, mit Blick auf Windräder, Serpentinen, Bauarbeiten einer ICE-Trasse.

Doch schnell wird klar: hier stimmt etwas nicht. Der Mann spricht auf Zuruf zwar den hiesigen Dialekt, fährt jedoch einen Mietwagen mit holländischem Kennzeichen und hat den Meldeschein des Hotels nicht korrekt ausgefüllt. Sein Handy ruht ausgeschaltet in einer Metallbox. Haben wir es mit einer Entführung zu tun? Sind überhaupt gerade Ferien?

Ertränkt, erschossen, erhängt

Der Sohn – ein aufgewecktes, kluges Bürschchen mit Bewegungs- und Erkundungsdrang – freut sich über jedes Abenteuer. Sei es ein Besuch des Urweltmuseums, eine spontane Nachtwanderung oder Autofahrten mit dem betrunkenen Vater. »Wir machen ganz schön viel zusammen«, bemerkt das Kind freudig.

Doch der Vater, der sich laut Meldeschein Höppner nennt, wird von einem Plan getrieben. Noch einmal will er die Schauplätze seiner eigenen Jugend aufsuchen, die beklemmenden Erinnerungen überprüfen, sie vielleicht sogar mit einem neuen Update überschreiben.

Denn die Familie steht in einer düsteren Tradition. »Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Pioniere zu Wasser, zu Land und in der Luft. Ich war noch am Leben. Der Junge war noch am Leben«, resümiert Höppner. Lässt sich der generationenübergreifende Fluch von Depression und Suizid durch Entschlossenheit stoppen?

Höppner versucht, dem wirren Netz von »Legenden, Lügen, Familienbla« eine andere Wahrheit entgegenzusetzen. Doch den Dämonen der Vergangenheit ist schwer beizukommen. »Unsere Eltern hatten alle einen Dachschaden. Fliegerbombe, Dachschaden.« Eine Kindheit auf einem schwäbischen Dorf in den 60er und 70er Jahren konnte bedeuten: Nazi-Väter, verzweifelte Mütter, körperliche und seelische Misshandlungen. Gewalt als bleibende Konstante. »In der Ermächtigung zum Brüllen lag die Ermächtigung zum Schlagen. Das war das Ermächtigungsgesetz.«

Von dunklen Kräften heimgesucht

Kein Wunder, dass sich der jugendliche Höppner bei erstbester Gelegenheit nach Berlin abgesetzt hat. Mit verbissenem Eifer erklimmt er eine akademische Laufbahn, verfasst erfolgreich Abstracts, Papers, ein wissenschaftliches Standardwerk (»absolut normgerecht in Syntax und Diktion«) und fremdelt jedoch dauerhaft mit dem larmoyanten Bildungsbürgertum. Small Talks bei gesellschaftlichen Anlässen erscheinen ihm wie mündliche Examen, bei denen er als Schwindler entlarvt wird. Ewig wird er sich als Flüchtling, Emporkömmling, Nicht-Dazugehöriger fühlen. »Man kann seine Klasse nicht verlassen. Man kann sie nur verraten.«

Wird wenigstens die Vaterrolle gelingen? Höppner setzt alles daran und wird doch von dunklen Kräften heimgesucht. Reale Orte und Begebenheiten (die er als »Dokumente« dingfest zu machen versucht) überschneiden sich mit Mordfantasien, Gewaltträumen. Ist der Junge in Gefahr?

Steine klopfen

Bov Bjergs ›Serpentinen‹ wechselt beständig die Richtung, mäandert zwischen Genealogie und Geographie, zwischen Heimat- und Seelenkunde. Die anrührende Vater-Sohn-Geschichte spielt in einer erdgeschichtlich geprägten Region voller Sedimente und Fossilien – wie ein Gleichnis für die versteinerten Gefühle ganzer Generationen. Dennoch blitzt die Hoffnung durch, eine verhängnisvolle Linie endgültig zu kappen. Als der Vater nach vielen halbherzigen Unternehmungen bedauernd feststellt: »Wir waren nicht Steine klopfen«, entgegnet der Sohn zuversichtlich: »Beim nächsten Mal.«

Die ländliche Schwäbische Alb als Schauplatz kennen wir bereits aus Bov Bjergs erfolgreicher Coming-of-Age-Geschichte ›Auerhaus‹, die auch als Theaterstück adaptiert und verfilmt wurde. Fans des Romans werden lose Verbindungen zu ›Serpentinen‹ erkennen, gemeinsame Figuren und Motive entdecken. Dennoch entwickelt diese Roadnovel eine eigene, unheilvolle Dynamik, die immer knapp am Abgrund vorbeischlittert und dafür eine dringliche Sprache findet. Ein starkes Buch, mit kurzen, prägnanten Sätzen, die wie Fausthiebe sitzen.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Bov Bjerg: Serpentinen
Berlin: Claassen 2020
266 Seiten. 22.- Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein Einhorn zum Verlieben

Nächster Artikel

Kampf dem Klimawandel: Neue Geschichten braucht die Welt

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Hardcore-Hype in der Kulturhauptstadt

Roman | Krimi | Massimo Carlotto: Die Marseille Connection Am Ende des Actionkinos French Connection (1975) fährt der Drogenboss Alain Charnier auf seiner Jacht die schier endlose Ausfahrt des alten Hafens von Marseille entlang, während ihn der New Yorker Cop Jimmy »Popeye« Doyle alias Gene Hackman an der Kaimauer nachjagt. Dieser Dreh bezieht minutenlang die einmalige Stadtkulisse Marseilles um den Vieux Port mit ein. Eine cineastische Glanzleistung. Ganz im Gegensatz dazu vermeidet der italienische Erfolgsautor Massimo Carlotto in seinem neuesten Krimi Die Marseille Connection jegliche Anspielung auf das Lokalkolorit der europäischen Kulturhauptstadt von 2013. Über die Gründe kann HUBERT HOLZMANN

Die Rache des Phantoms

Roman | Alex Beer: Felix Blom. Der Häftling aus Moabit

Berlin 1878. Als der Dieb und Betrüger Felix Blom nach drei Jahren Einzelhaft wieder freikommt, stehen zwei Dinge auf seiner Agenda: sich an dem Mann zu rächen, der ihn mit einem hinterhältigen Trick ins Gefängnis gebracht hat, und wieder in jene Kreise aufzusteigen, in die er es schon einmal geschafft hatte. Allein er hat mächtige Widersacher. Die Polizei sähe den raffinierten Burschen, der sie jahrelang an der Nase herumgeführt hat, am liebsten wieder sicher verwahrt. Und sein Konkurrent um die Gunst der schönen Auguste Reichenbach, Baron Albert von Mesar, beeilt sich, der begehrten Bürgerlichen einen Antrag zu machen, um nicht noch einmal ins Hintertreffen zu geraten. Und schließlich ist da auch noch ein Psychopath mit Todesankündigungen unterwegs, auf dessen Schwarzer Liste Blom ziemlich weit oben zu stehen scheint, ohne dass er weiß, womit er sich diese zweifelhafte Ehre verdient hat. Von DIETMAR JACOBSEN

Wer ich bin? Wer bist du?

Roman | Jürgen Bauer: Was wir fürchten Wie schon in seinem Debüttext aus dem Jahr 2013 Das Fenster zur Welt stellt Jürgen Bauer in seinem neuen Roman Was wir fürchten die Frage nach dem Urgrund des Menschen. In seinem Erstling fand er die Antwort noch ganz zielgerichtet in einem anderen Menschen, einem Gegenüber, einem Mitspieler und dessen Geschichte, Erfahrungen und Vergangenheit. Diesmal jedoch verunsichert er sein Lesepublikum stark. Denn den jungen österreichischen Autor interessieren nicht die Typen, die auf der Erfolgswelle des Lebens schwimmen oder zumindest nach außen hin die Fassade des Glücks und Erfolgs aufrecht halten können. Jürgen Bauer

Gewalt in Worte gefasst

Roman | Valerie Fritsch: Zitronen

»Ich glaube nicht, dass es nur ein dunkler Roman ist. Das Leben ist nicht linear. Natürlich handelt es sich bei Gewalt um etwas Düsteres, aber dennoch ist sie allgegenwärtig. Trotzdem geht es in diesem Roman auch viel um Zärtlichkeit. Aber es stimmt schon, es ist sicher ein Buch der Unbarmherzigkeit«, hatte die 34-jährige österreichische Schriftstellerin und Fotokünstlerin Valerie Fritsch in einem Interview über ihren Roman Zitronen erklärt. Von PETER MOHR

Angst, Hunger und Durst

Roman | Jesús Carrascos: Die Flucht Jesús Carrascos glänzendes Romandebüt Die Flucht. Von PETER MOHR